Wenn Azza am Steuer sitzt, kann es passieren, dass die junge Frau eine rasante Kurve nimmt oder einen derben Fluch ausstößt. Oft greift sie dann zu ihrem Mobiltelefon und fotografiert das Kennzeichen des Autofahrers, der sie gerade geschnitten oder abgedrängt hat. Um ihm eine Lehre zu erteilen – auch wenn Azza weiß, dass die Meldung solcher Vergehen nicht wirklich Konsequenzen hat.
Immer sind es Männer. Und meistens lachen diese, wenn sie sehen, dass eine Frau am Steuer sitzt. In Saudi-Arabien, wo die Protagonistin des gleichnamigen Dokumentarfilms lebt, ist diese Tatsache nicht komplett neu, aber trotzdem ungewohnt: Seit 2018 ist es Frauen erlaubt, Auto zu fahren. Für Azza, die seitdem als selbständige Fahrlehrerin arbeitet, bedeutet ihr Auto ein Stück Freiheit.

40. Dokumentarfilmfestival München:Das sind die Höhepunkte des Dok-Fests
Das Münchner Dokumentarfilmfestival zeigt in seiner 40. Ausgabe 105 Werke aus aller Welt, darunter Dutzende Premieren. Zum runden Geburtstag gibt es neue Reihen, neue Spielorte und ein Jubiläumsprogramm mit Party.
Diese musste sich die selbstbewusste Frau hart erkämpfen, wie das feinfühlige Porträt von Stefanie Brockhaus zeigt, das auf dem Dok-Fest München in der Empowerment-Reihe zu sehen ist. Die Münchner Filmemacherin hat die Fahrlehrerin über drei Jahre lang mit der Kamera begleitet und ihre beeindruckende Lebensgeschichte eingefangen.
Azzas Spontanität, ihre Intuition und ihr Instinkt, das Leben zu nehmen und Entscheidungen zu treffen, hätten sie von Anfang an begeistert, erzählt Brockhaus, die ihre Protagonistin 2018 kennenlernte. „Sie hat ein sehr großes Herz, dem sie auch vertraut. Eigentlich hat sie keine Angst.“ Obwohl die saudische Frau viel Gewalt erleben und sich immer wehren musste: Sie wurde mit 16 Jahren verheiratet, durfte die Schule nicht beenden, bekam vier Kinder und war jahrelang in einer gewalttätigen Ehe gefangen – bis sie sich durch eine List daraus befreite und sich scheiden ließ. Obwohl das für Azza zu diesem Zeitpunkt bedeutete, dass sie ihre Kinder nicht sehen, ihre Familie sie verstoßen und sie keinerlei finanzielle Unterstützung erhalten würde, entschied sie sich für ein Leben in Selbstbestimmung.
Zu Azzas Glück änderte sich in den vergangenen Jahren die gesetzliche und gesellschaftliche Situation der Frauen in Saudi-Arabien erheblich. Das Vormundschaftsrecht des Mannes wurde eingeschränkt, Frauen können sich seitdem scheiden lassen, ohne auf das Sorgerecht für ihre Kinder verzichten zu müssen. Sie dürfen ohne männlichen Vormund reisen, studieren oder arbeiten – und Autofahren.

„Im Dokumentarfilm hat man oft das Problem, dass man die Vergangenheit nacherzählen muss. Hier habe ich selbst Zeitgeschichte und gesellschaftliche Veränderung miterlebt, das war spannend“, sagt Brockhaus, die Dokumentarfilmregie an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film studiert hat. Während der Reformen drehte sie in Saudi-Arabien die Doku „The Poetess“ (2017) über die Poetin Hissa Hilal, die als erste Frau in der arabischen TV-Show „Million's Poet“ teilnahm und in ihren Gedichten den fanatischen Islam und das Patriarchat angriff. Aus purem Zufall sei sie damals mit der ihr fremden Kultur in Berührung gekommen und habe das Land kennengelernt, erzählt die gebürtige Münchnerin.
Fasziniert von dem Land, suchte Brockhaus für einen weiteren Film nach jungen Frauen, die Fahren lernen wollten. Sie landete bei Azza, die „gerade dabei war, sich einen neuen Weg zu erarbeiten“, wie sich die Filmemacherin ausdrückt, und deren Leben sie fortan in regelmäßigem Abstand mitverfolgte. Mit einer offiziellen Drehgenehmigung sei es kein Problem gewesen, vor Ort zu drehen, sagt Brockhaus. Nur Aufnahmen von Gebäuden, die zu Königshaus und Regierung gehören, seien ihnen nicht gestattet gewesen. Schwieriger war es hingegen mit den Menschen: in Azzas Familie wollte niemand gefilmt werden.
Ein paar eindringliche Momente mit ihrem Vater, dem aktuellen Ehemann und ihren Kindern gibt es aber doch. „Geschenke“ nennt die Dokumentarfilmerin solche Szenen, die zusammen mit Gesprächen, Einblicken in Azzas Alltag und einem spektakulären Selbstfindungstrip in die Wüste das Bild einer emanzipierten saudischen Frau ergeben, die zwischen patriarchaler Tradition, Familie und Selbstbestimmung hin- und hergerissen ist: Die will, dass ihre Töchter studieren und den Ex-Mann dafür verflucht, dass er seine Tochter misshandelt, weil sie sich die Haare kurz geschnitten hat. Die aber auch wieder geheiratet hat und ein weiteres Kind bekommen hat, damit ihre Familie sie akzeptiert. Diesmal allerdings einen Mann, den sie sich selbst ausgesucht hat und der der Verwirklichung ihrer selbstbestimmten Träume nicht im Weg steht.

Immer wieder holt Azza dabei die Vergangenheit ein: schmerzhafte Erinnerungen an Gewalt, Abhängigkeit und Wut. Auf das patriarchale System, das ihr den Zugang zu Bildung verwehrte – für die junge Frau die Wurzel allen Übels.
Eine Szene aus dem Film bleibt im Kopf: Azza klopft bei ihrer Reise in die Wüste wild entschlossen einen Edelstein aus einem riesigen Felsen heraus. Sie möchte ihn unbedingt ihrem Vater schenken, es kostet sie allerdings sehr viel Mühe und Kraft, den Stein herauszulösen. Fast schon symbolisch hackt sie wie eine Besessene auf dem Phallussymbol herum, dass man das Gefühl hat, sie räche sich an den Männern. Aber sie gibt nicht auf und schafft es schließlich. Und folgt als unerschrockene Kriegerin unbeirrbar weiter ihrem Weg– sogar bis nach München.
Azza hat ihre erste Reise außerhalb von Saudi-Arabien angetreten und wird bei fast allen Screenings des Films anwesend sein.
„Azza“, Regie: Stefanie Brockhaus, Dienstag, 13. Mai, 20.30 Uhr, HFF (mit Stephanie Brockhaus), Samstag, 17. Mai, 18 Uhr, Neues Rottmann, weitere Informationen unter www.dokfest-muenchen.de