Süddeutsche Zeitung

Diskussion:Glaubwürdigkeitsprobleme

Stadtratskandidaten von SPD, CSU, Grünen und FDP ernten bei einer Diskussion über den Bauboom in Feldmoching viel Spott und Häme. Beifall gibt es für die wachstumskritischen Vertreter der ÖDP und der neuen München-Liste

Von Renate Winkler-Schlang, Feldmoching

Feldmoching ist dörflich geblieben, hier kann man eine große Veranstaltung über die "lebenswerte Entwicklung" des Stadtteils in einem bäuerlichen Stadl abhalten. Die städtebauliche Entwicklungsmaßnahme (SEM) Nord ist zwar vom Tisch, nicht aber das Begehren von Politik und Investoren, hier die Stadt im großen Stil zu erweitern. Doch auch ohne dieses Projekt wird hektarweise Grün verschwinden, wird sich die Zahl der Feldmochinger bald verdoppeln, die in Ludwigsfeld verdreifachen, und die Lerchenau wird stöhnen unter der umstrittenen Bebauung des Eggartens. Grund genug für das Bündnis München Nord, die Frage nach dem Bauboom zum Prüfstein zu machen für die Stadtratswahl. Die Stimmungslage unter den rund 400 Gästen am Samstag war eindeutig: Ein Auf-die-Bremse-Treten trauen die Bürger im Stadl SPD und CSU, die im Rathaus das Sagen haben, nicht zu. Auch zu den Grünen und der FDP haben sie da kein Vertrauen. Wäre diese vom TV-Moderator Tilman Schöberl geleitete Versammlung ein Wahlbarometer, könnte man prophezeien, dass die Kleinen bald ganz groß rauskommen, vor allem die ÖDP und die neue München-Liste.

Eine Nabelschau war das nicht, die Feldmochinger machen sich Sorgen um die gesamte Stadt, stören sich auch an Projekten wie den Türmen bei der Paketposthalle. Zusammengeschlossen im Bündnis München Nord haben sich die Aktionsgemeinschaft "Rettet den Münchner Norden", das Bündnis Gartenstadt, der Bürgerverein Lerchenau, der Eigenheimerverein Feldmoching, die Initiative Heimatboden und die Interessengemeinschaft Fasanerie aktiv. Doch ihre Themen lockten auch Inititiativen-Vertreter aus dem Osten und Westen. Stefan Uhl, Vorsitzender des Feldmochinger Eigenheimervereins, erläuterte, dass der Mangel an Wohnungen hausgemacht sei: Die Stadt habe zu viele Gewerbegebiete ausgewiesen und so Zuzug provoziert. Solange das weitergehe, werde der Wohnungsbau dem Bedarf hinterherhinken. Aber: "München ist nicht aus Gummi, man kann es nicht aufblasen wie einen Luftballon." Zu groß seien die "Nebenwirkungen" der Verdichtung. Verkehrswege und Infrastruktur fehlten, Erholungsraum, Lebensqualität, der Charakter der Viertel werde zerstört - und andere Regionen entvölkert. Es war ein Heimspiel: Beifall war Uhl hier gewiss.

Die Stadträtinnen Dorothe Wiepcke (CSU), Simone Burger (SPD), Stadtrat und OB-Kandidat Jörg Hoffmann (FDP), auch Grünen-Stadträtin Anna Hanusch aber gerieten unter Rechtfertigungsdruck. Oft schallte ihnen Hohngelächter von den Bierbänken entgegen, auch wenn sie auf die Differenziertheit ihrer Politik verwiesen. So erklärte Wiepcke, sie sei bereit gewesen zu Gesprächen über den Eggarten, Hanusch merkte an, dass die Grünen für dessen Rettung gestimmt hätten, ebenso Hoffmann. Burger verwies auf die Notwendigkeit sozialen Wohnungsbaus. Allein, das Auditorium bezweifelte deren Glaubwürdigkeit. Auch André Wächter (Bayernpartei) drang nicht durch mit dem Hinweis, seine Fraktion habe die SEM immer schon abgelehnt. Reinhard Sachsinger etwa von der AG "Rettet den Münchner Norden" attestierte den Grünen, sie seien längst "falsch abgebogen": Mit "Zubauen" hätten sie kein Problem mehr. Die SPD sei mit sich selbst beschäftigt, Oberbürgermeister Dieter Reiter lasse sich allenfalls zum Rosstag in Feldmoching blicken - und die CSU übe sich in "Täuschungsmanövern".

Wohlwollen dagegen erntete Tobias Ruff (ÖDP) mit seinen Hinweisen auf das Bienen-Bürgerbegehren, für das er den Text verfasst habe. Er prangerte vor allem an, dass der Stadtrat unlängst die pro neuem Einwohner in Bauprojekten vorzuschreibende Quadratmeterzahl an Grünfläche stark reduziert habe. Dirk Höppner von der wachstumskritischen München-Liste betonte, er und seine Mitstreiter wollten das Wachstum "nicht auf Null absenken, sondern auf ein vernünftiges Niveau".

Klar war allen, wie komplex das Thema ist, angesprochen wurden die Nullzinspolitik und das Ausweichen von Investoren in Immobilien. Hoffman erklärte, Hochhäuser schonten Flächen und nur Gewerbe bringe Arbeit und Wohlstand. Burger regte an, zu überdenken, ob die Finanzierung kommunaler Haushalte über Gewerbesteuer nicht falsche Anreize zur Versiegelung setze. Moderator Schöberl erinnerte an Alt-Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD), der eine Bodenrechtsreform fordert.

Ein Bürger erklärte, neue Verkehrsgutachten würden auch nichts nutzen, denn ohne Vorgarten-Enteignungen könne man keine Straßen verbreitern. Doch Tausende neue Einwohner mit zwei Buslinien zur S-Bahn abspeisen zu wollen wie in Ludwigsfeld, sei auch keine Lösung. Ein anderer bemängelte, dass auf dieser engagierten Veranstaltung die Jugend fehle: Dabei gehe es doch um deren Zukunft.

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Quelle:
SZ vom 14.10.2019
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