Wenn Can Aydin als Kind im Hinterhof beim Spielen zu laut gewesen ist, schrien die Nachbarn: "Der Kanake soll dahin zurück, wo er her gekommen ist." Seine Mutter brachte ihn im Klinikum am Rotkreuzplatz zur Welt. Aydin ist 40 Jahre alt, studierter Sozialpädagoge. Mit dunklen Haaren, dunklen Augen. Und Eltern, die als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland kamen. Vor vier Jahren fing Aydin in einer Münchner Grundschule als Sozialarbeiter an. Über seinen ersten Arbeitstag sagt er: "Ich habe mich gefühlt, als würden spanische Eroberer gerade die ersten Mayas sehen."
Saskia Maurer ist eine Frau, die ihre Worte abwägt, bevor sie spricht. Sie ist Wissenschaftlerin und verfasst Artikel, in denen sie sich für eine menschenwürdige Versorgung von Flüchtlingen ausspricht. Ihre Texte findet man im Internet. Eines Tages erhält sie E-Mails von Absendern, die sie nicht kennt. Sie öffnet die erste. "Was redest du für einen Müll?", steht darin. Sie öffnet die zweite: "Womit hast du deinen Doktortitel verdient?" Saskia Maurer schaut auf Facebook und Twitter. Unter einem Foto von ihr steht: "Ebenso hässlich wie dumm." "Wer hat der Frau ins Gehirn geschissen?" Das geht so weiter, wochenlang. Saskia Maurer versucht zu vergessen. Und dann liest sie: "Hängt sie doch einfach auf."
Saskia Maurer und Can Aydin heißen eigentlich anders. Sie möchten anonym bleiben, weil sie das, was sie erlebten, immer noch nicht ganz verarbeitet haben. Ihre Fälle sind verschieden, doch beide berät der Verein Before, der sich seit zwei Jahren um Opfer von Diskriminierung, Rassismus und rechter Gewalt kümmert. Maurer und Aydin sind zwei von etwa 270 Betroffenen, die in dieser Zeit die Hilfe der Beratungsstelle in Anspruch nahmen. Darunter sind auch Menschen, die fast 40 Jahre nach dem Oktoberfest-Attentat unter den Folgen leiden. Familien, deren Angehörige von der rechten Terrorgruppe NSU ermordet wurden. Und Opfer des Anschlags am Olympia-Einkaufszentrums.
156 Menschen wandten sich an die Beratungsstelle, weil sie sich diskriminiert fühlten - aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Religion, ihrer Behinderung, ihrer politischen Einstellung oder ihrer sexuellen Orientierung. Einer davon ist Can Aydin. Er sitzt auf einem blauen Sessel, in einem hellen Raum der Beratungsstelle, im Gebäude gegenüber befindet sich eine Augenklinik, eine Straße weiter sind Shisha-Bars, Gemüseläden, Herrenfriseure. Aydin kommt regelmäßig hierher, um zu erzählen, was er an einer Münchner Grundschule zweieinhalb Jahre lang erlebte.
"In der Pause im Lehrerzimmer äffte eine Lehrerin immer die ausländischen Schüler nach. Sie sagte Sachen wie: Du Brot geben, du Wurst geben", erzählt Aydin. Die anderen Lehrer hätten gelacht oder geschwiegen. Auch ihm gegenüber habe das Kollegium abfällige Bemerkungen gemacht. "Du mit deinem Erdoğan." "Die Südländer arbeiten halt nicht so, wie man sich das in Deutschland vorstellt."
Irgendwann sei er in der Pause gar nicht mehr ins Lehrerzimmer gegangen - so sehr habe er unter der Atmosphäre gelitten. Schüler, die aus Nordafrika stammen, hätten dieses Klima auch gespürt und sich schließlich an eine andere Schulsozialarbeiterin gewandt: "Ich hasse diese Lehrerin. Ich will in eine andere Klasse." Can Aydin versuchte erst mit dieser Lehrerin zu sprechen und als das nichts brachte, entschied er sich, seinen Vertrag nicht zu verlängern.
So ähnlich wie Can Aydin geht es vielen, die sich an Before wenden. In etwa einem Viertel aller Fälle suchen die Menschen Unterstützung, weil sie sich am Arbeitsplatz herabgewürdigt fühlen. Mehr als die Hälfte aller Betroffenen sind von den Tätern abhängig. Aydin hat zusammen mit den Beratern und Anwälten von Before eine Dienstaufsichtsbeschwerde verfasst. Sie wurde ablehnt. Es stand Aussage gegen Aussage. Aydin ärgert das immer noch. "Aber immerhin", sagt seine Beraterin Léa Rei, "müssen sich die Leute dann mit ihren Taten auseinandersetzen." Die Lehrerin und die Rektorin wurden befragt. Und das sei schließlich für niemanden angenehm.
Auch Saskia Maurer sitzt auf dem blauen Sessel in der Beratungsstelle. Sie trinkt Tee, an der Wand gegenüber hängt ein Bild von bunten, arabischen Toren. In der Statistik von Before zählt Maurer zu den 111 Menschen, die Rat suchten, weil sie einen Angriff erlebten. Doch anders als ein Großteil der Betroffenen wurde Maurer nicht auf der Straße oder beim Einkaufen beleidigt, genötigt und geschlagen. Maurer erfuhr Gewalt im Internet.
Die ersten E-Mails löschte sie einfach. Doch der Hass ging weiter, auf Facebook und Twitter. Eines Tages entdeckte Maurer einen Online-Artikel mit einem Foto von ihr. Darin stand, dass es im Internet Mordaufrufe gegen sie gebe, dass die Betreiber der Seite diese aber nicht löschen würden, dass sich Maurer an die Polizei wenden könne. Ein Interview hatte Maurer der Zeitung nie gegeben. Aber tatsächlich postete ein Fremder auf Facebook "Hängt sie auf" unter ein Foto von ihr.
"Als ich den Artikel gelesen habe, hatte ich das Gefühl, die Kontrolle über mein eigenes Leben zu verlieren", sagt Maurer. "Plötzlich traf mich die ganze Wucht des Hasses, den ich vorher noch verdrängen konnte." Saskia Maurer begann, allen zu misstrauen und an sich selbst zu zweifeln. Sie löschte ihren Twitter- und ihren Facebookaccount.
Dann erzählen ihr Freunde von Before. Über ihren ersten Besuch in der Beratungsstelle sagt sie: "Es war das Beste, was mir in diesem Moment passieren konnte." Zuerst konnte sie sich aussprechen, dann brachten die Beraterinnen sie mit einem Anwalt in Kontakt. Maurer erstatte Anzeige. Der Mann, der den Mordaufruf ins Netz gestellt hatte, bekam eine Geldstrafe. Wie hoch, kann Maurer nicht sagen. Sie habe den Brief des Anwalts gleich in ein Regal gesteckt und nicht mehr angeschaut.
Before vermittelte Maurer auch zu einer Therapeutin. Jedes Mal, wenn in den Nachrichten von Rechten die Rede war, habe sie wieder an den Hass denken müssen, der ihr widerfahren war. Man spürt, dass es ihr immer noch schwerfällt, über all das zu sprechen. Sie willigte in ein Gespräch ein, weil sie von der Arbeit von Before überzeugt ist und hofft, dass auf diese Weise auch andere auf die Beratungsstelle aufmerksam werden. "Ich war so verwirrt, aber hier haben die mich wieder auf die Füße gestellt." Heute, sagt sie, fühle sie sich manchmal sogar noch stärker als zuvor.
Genugtuung, dass der Täter eine Geldstrafe zahlen muss, fühlt Maurer nicht. "Ich weiß, dass er verschuldet und arbeitslos ist. Ich kann verstehen, dass er frustriert ist." Es sei jemand, für den sie sich in ihrer Arbeit genauso eingesetzt hätte wie für Flüchtlinge. Gleichzeitig zeige ihr die Geldstrafe, dass das System, die Justiz noch funktioniere. Und das habe ihr wieder Vertrauen gegeben.
Inzwischen hat Maurer sich einen neuen Twitter Account zugelegt. Auch Can Aydin ist der Beratungsstelle dankbar. Doch er weiß nicht, wie er damit umgehen soll, dass das Verhalten der Lehrerin ohne Konsequenzen bleibt. Jemals wieder an einer Schule zu arbeiten, sagt Aydin, könne er sich jedenfalls nicht vorstellen. Sicher, ob er in Deutschland bleiben will, sei er sich auch nicht.