Süddeutsche Zeitung

Direktkandidat zur Bundestagswahl im Wahlkreis München-Land:Jetzt auch mit Anzug

Die Grünen haben sich verändert und sehen sich plötzlich als Hoffnungsträger der Industrie. Toni Hofreiter aber ist weitgehend derselbe geblieben - auch wenn er an seinem Auftreten gearbeitet hat

Von Michael Morosow

Blumen haben es Anton Hofreiter seit jeher angetan. Wegen einer Inkalilie, über die der Biologe 2003 promovierte, hätte er beinahe sein Leben verloren. Auf der Suche nach ihr war er im bolivianischen Urwald von einem Felsvorsprung abgerutscht und nur deshalb nicht in die Tiefe gestürzt, weil sich sein Fuß in einem Strauch verfangen hatte. Anfang August dieses Jahres steht der Doktor der Biologie in der Pop-up-Galerie Pavlov's Dog in Berlin-Kreuzberg, wo die Ausstellung "Watching Flowers" gezeigt wird - mit Fotografien von Luzia Simons und Aquarellen von Anton Hofreiter. Es sind Pflanzenmotive mit den stattlichen Bergen der Anden im Hintergrund, mit kräftigen Farben gemalt, so auch eine Inkalilie. Nun, ein van Gogh oder Monet wird nicht aus ihm werden, aber Beachtung finden seine Aquarelle dennoch. Was wohl nicht zuletzt auch damit zu tun hat, dass der Maler Vorsitzender der Grünen-Fraktion im Deutschen Bundestag ist. Jener Partei mit der Sonnenblume im Logo und der Hoffnung im Herzen, dass sie bald wieder Regierungsverantwortung wird tragen können.

Am ersten Freitag im September, die Hauptstadt bereitet sich gerade auf die große Fridays-for-Future-Kundgebung vor, empfängt Anton Hofreiter seinen Gast in seinem Büro im zweiten Stock des Jakob-Kaiser-Hauses an der Dorotheenstraße. Ein wenig abgekämpft schaut er aus und viel Zeit hat er auch nicht. Der Wahlkampf ist in seiner Hochphase, der Terminkalender gewährt kaum Verschnaufpausen. Ein Interview folgt dem anderen, und fast täglich steht er auf einem Podium irgendwo in Deutschland, um die Menschen auf die grüne Linie einzuschwören.

Die neuesten Wahlprognosen aber können ihm nicht gefallen. Die Grünen sind nach einem länger währenden Höhenflug bis hinauf zur stärksten Partei mit 26 Prozent Zuspruch wieder bis auf 15 Prozent abgesackt im Polit-Barometer. Seine weitere Zugehörigkeit zum Deutschen Bundestag ist zwar nicht in Gefahr, mit Platz zwei auf der Liste der Bayern-Grünen dürfte seine Wiederwahl aber gesichert sein. Vor wenigen Wochen noch hatte es nach mehr ausgesehen, nachdem die Unionsparteien in gleichem Maße in der Wählergunst abgestürzt waren, wie es die Grünen nach oben getrieben hatte. Selbst das bislang schier Unmögliche schien denkbar, der Verlust des Direktmandats der CSU im Münchner Landkreis an die Umweltpartei, mithin ein Sieg Toni Hofreiters gegen Florian Hahn. Dann aber tappte die Frontfrau der Grünen, Annalena Baerbock, in mehrere Fettnäpfchen gleichzeitig. Fehler im Lebenslauf, nachträglich gemeldete Nebeneinkünfte, ihr Buch mit Lücken im Quellenverzeichnis - all das fand in einer nun wieder sinkenden Wählergunst seinen Niederschlag. "Sie hat Fehler gemacht, aber ihr Auftritt zuletzt beim Triell im Fernsehen war sehr gut", sagt der 51-Jährige.

Toni Hofreiter hat inzwischen geheiratet und ist vor fünf Monaten Vater eines Buben geworden, seine kleine Familie sieht er gegenwärtig aber nicht oft. Die zweite Industrie-Tour nach 2020 führte ihn im August für zweieinhalb Wochen durch den Osten und Norden der Republik, gerade hat die Süddeutschlandtour begonnen: Die Termine erreicht er oft in einem Elektroauto. Als Beifahrer, denn Toni Hofreiter selbst hat noch nie ein Auto besessen.

Dass er und seine Grünen inzwischen einen guten Stand hätten selbst in der Stahlindustrie, wie er sagt, empfindet der 51-Jährige als Bestätigung der gemeinsamen Arbeit. "Wir sind beste Freunde bei unseren Treffen", sagt der Co-Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion mit Blick auf die Industriebosse. Diese hätten gemerkt, dass der Standort Deutschland nur dann Technologievorreiter bei der Entwicklung klimaneutraler Prozesse und Produkte werden könne, wenn die Weichen auf ökologische Modernisierung gestellt werden. Dafür habe die große Koalition aber keine ausreichenden Rahmenbedingungen geschaffen, selbst die Industrielobby habe daran nichts ändern können. Für den Umstieg bei der Stahlproduktion von Kohle auf Wasserstoff sieht Hofreiter Carbon Contracts for Difference als Instrument zur Förderung von klimafreundlichen Investitionen. Kurz: Der Staat fördert treibhausgasneutrale Produktionsprozesse, indem er Mehrausgaben begleicht. Früher habe man von der Stahlindustrie nur gehört, auf Kohle könne nicht verzichtet werden, heute lese man auf der Homepage der Hüttenwerke Krupp Mannesmann GmbH in Duisburg, bei denen er im August mit dem Elektromobil vorfuhr: "Wasserstoff treibt uns an." Im Juli war Hofreiter bei einem Hersteller von Brennstoffzellen in Brunnthal. Viele Ideen, Erfindungen und Konzepte lägen in den Schubladen, "es müssen nur noch die politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden".

Die Grünen als Hoffnungsträger für die Industrie - es hat sich zuletzt vieles verändert im Lande, Anton Hofreiter ist weitgehend derselbe geblieben. Er ist weiter dem linken Parteiflügel zuzuordnen, seine langen blonden Haare reichen weiterhin bis über seine breiten Schultern, und es ist ihm heute noch egal, wenn sich andere daran stoßen oder darüber lästern, wie Bayerns Ministerpräsident Markus Söder am Montag, als er bei einem Wahlkampfauftritt in Gillamoos kalauerte, der Grüne verweigere sich beharrlich dem "hervorragenden bayerischen Friseurhandwerk".

Und nach wie vor kocht es häufig in ihm, wenn bestimmte Redner im Bundestag das Wort ergreifen, etwa Alice Weidel (AfD) oder Christian Lindner (FDP). Dann kann er auch mal sehr scharf und sehr laut werden, manchmal flippt er regelrecht aus. Die vielen "Ähs", die einst seine Reden schwächten, hat er sich abtrainiert, mit seiner bayerischen Mundart kokettiert er inzwischen außerhalb des Freistaates, sagt ab und an zu Beginn seiner Reden: "Sie haben gehört, dass ich nicht direkt von hier bin." Seine Auftritte haben insgesamt gewonnen. Dass er seit längerer Zeit schon öffentlich im Anzug erscheint, bevorzugt im blauen, darf als spätes Eingeständnis an seine gehobene Position gesehen werden. Wohler fühlt er sich in Wanderschuhen und Hemd und damit am liebsten im Wilden Kaiser oder der Jachenau. Auf den Fraktionschef wartet der nächste Termin, aber so viel Zeit bleibt noch, dass er eine Mappe mit Aquarellen auf den Tisch legt: Feuerlilie, Enzian, Türkenbund und ein Frauenschuh aus der Jachenau. Ein van Gogh wird nicht aus ihm, aber vielleicht ein Verkehrsminister.

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SZ vom 09.09.2021
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