Süddeutsche Zeitung

Digitale Welt:Reif fürs Archiv

Erstmals hat die Stadt nun ein komplettes digitales Speichersystem für elektronische Dokumente. Denn die größte Herausforderung sind nicht verstaubte Aktenbündel. Sondern kaum noch lesbare Dateien

Von Martin Bernstein

Schluss mit Aktenbündeln, aus denen Staubwolken aufsteigen, das klingt so schön modern. Kein brüchiges, vergilbtes Papier, das nur mit Seidenhandschuhen umgeblättert werden darf. Wer künftig zu Themen der Stadtgeschichte recherchiert, muss nicht mehr in den Lesesaal des Stadtarchivs an der Winzererstraße, sondern kann das sauber, papierlos und einfach am heimischen PC machen . . .

Daniel Baumann schüttelt den Kopf und lächelt milde, wenn er auf solche Visionen angesprochen wird. Der städtische Archivexperte weiß: Die komplett digitale schöne neue Archivwelt wird wohl noch ein bisschen auf sich warten lassen. Vielleicht 50 Jahre, vielleicht mehr. Und ob sie unbedingt schön sein wird, ist auch noch nicht ausgemacht. Den Einstieg hat die Stadt München aber schon mal geschafft: Das von Simone Ebert-Pristl von der städtischen IT geleitete Projekt "Digitale Langzeitarchivierung" wird an diesem Dienstag der Öffentlichkeit vorgestellt.

Vorausgegangen sind rund zehn Jahre Vorüberlegungen, Planungen, Stadtratsbeschlüsse. Dass München zum Vorreiter wurde, war eine schiere Notwendigkeit: Egal ob Geburts- und Sterberegister, Meldedaten oder die Gewerbeanmeldungen: Die meisten dieser Datensammlungen funktionieren seit Jahren ohne Papier. Wenn die Aufbewahrungsfrist in den Behörden endet - oft ist das nach zehn Jahren der Fall -, dann übernimmt das Stadtarchiv die überlieferungswürdigen Akten und Dokumente. Kein großes Problem, solange amtliche Schriftstücke auf Papier ausgestellt wurden. Papier kann man einlagern. Wenn Temperatur und Luftfeuchtigkeit stimmen, kann den Dokumenten wenig passieren. Wer in der Geschichte der Stadt forscht, kann im Lesesaal des Stadtarchivs in Akten blättern, die hundert Jahre und älter sind. Manchmal ist der Lesesaalbesucher des 21. Jahrhunderts der erste Mensch, der die Aktendeckel nach ihrer Archivierung wieder aufschnürt. 20 Regalkilometer Akten und 90 000 Urkunden sind so bisher zusammengekommen - und der Bestand im Stadtarchiv wächst und wächst. Jedes Jahr kommen weitere 500 Regalmeter dazu.

Doch immer mehr städtische Ämter und Einrichtungen steigen teilweise oder ganz auf Digitalisierung um. Rund 300 städtische Fachverfahren haben die Archivexperten ermittelt, die statt auf Papier nur noch im Computer abgewickelt werden. Mehr als 50 davon wurden als archivwürdig erkannt. Und damit beginnen die Probleme. Daniel Baumann, der Sachgebietsleiter für die digitale Langzeitarchivierung, erzählt von Akten aus dem Ausländerbeirat: grundsätzlich noch auf Papier, doch mitten im Konvolut eine 3,5-Zoll-Diskette aus dem Jahr 1999. Eine der Dateien war bereits nicht mehr lesbar, die übrigen in zum Teil nicht mehr gebräuchlichen Dateiformaten. Und damit sind die größten Schwierigkeiten umschrieben, mit denen sich Archivare im digitalen Zeitalter herumschlagen müssen: alte Speichermedien, alte Dateiformate - und Dokumente, die sich buchstäblich in Luft auflösen.

Die Hilfe kam aus dem Weltraum. Die Nasa hatte schon bei ihren Mondflügen in den Sechzigerjahren Computertechnik eingesetzt und trieb deshalb die Entwicklung eines Modells der digitalen Langzeitarchivierung voran. OAIS, ein dynamisches, erweiterungsfähiges Archivinformationssystem, ist seither zum weltweiten Standard geworden, an dem sich auch die Münchner Entwickler orientierten. Das Stadtarchiv München hat in Zusammenarbeit mit der städtischen IT und der Schweizer Scope Solutions AG ein System geschaffen, das nach eigenen Angaben "die Übernahme, die Speicherung und den langfristigen Erhalt digitaler Archivalien ermöglicht. Es ist damit das erste Kommunalarchiv in Bayern, welches die Archivierung digitaler Unterlagen sicherstellen kann". Es geht um riesige Datenmengen, um viele Terabyte. Und die wollen gewartet werden.

Denn das Beispiel der 3,5-Zoll-Diskette aus dem Ausländerbeirat zeigt: Anders als Schriftstücke auf Papier nehmen es elektronisch gespeicherte Daten extrem übel, wenn sich niemand um sie kümmert. Die für die digitale Langzeitarchivierung zuständigen Archivare und IT-Experten müssen für die Dokumente, die archiviert werden sollen, zusammen mit dem externen Dienstleister die entsprechenden Schnittstellen schaffen. Der Historiker und Archivexperte Baumann: "Wir müssen schon proaktiv überlegen, was wir wollen." Dann werden die digitalen Archivalien sechsfach auf verschiedenen Trägern gespeichert - räumlich getrennt. 7,5 neue Stellen wurden hierfür geschaffen.

Die Dateien müssen regelmäßig kontrolliert und gepflegt werden. Und alle fünf Jahre muss man sie umspeichern. Der große Aufwand stellt zudem sicher, dass die Datenhoheit auch in Zukunft bei der Stadt liegt. "Archivierung ist kein Selbstzweck", sagt der Leiter des Stadtarchivs, Michael Stephan. "Das Stadtarchiv hat die Aufgabe, Verwaltungsunterlagen zu sichern, um die städtische Rechtsposition zu wahren und um historische Informationen für die Bürger bereitstellen zu können. Nun ist dies erstmals auch für digitale Unterlagen möglich." Audioprotokolle ausgewählter Stadtratsausschusssitzungen wurden bereits in das neue digitale Magazin übernommen. Videomitschnitte der Stadtratsvollversammlungen, Luftbilder der Stadt München sowie elektronische Akten der Ausländerbehörde sollen noch in diesem Jahr folgen.

Der nächste Schritt ist dann für Anfang des kommenden Jahres geplant: Dann sollen alle Bestände des Stadtarchivs - die auf Papier ebenso wie die aus Bits und Bytes bestehenden - in einem einzigen Recherche-Instrument im Internet zu finden sein. Wer dieses nutzen will, muss dann aber immer noch in den Lesesaal gehen. Erst in einem späteren Schritt sollen die digitalen Archivalien über eine "Auslieferungsplattform" (Baumann) nutzbar gemacht werden.

Das Stadtarchiv kommt dann mit einem Teil seiner Bestände direkt in heimische Arbeitszimmer und in Redaktionsbüros. Archivexperte Baumann weiß, was das bedeutet: "Wir haben dann keinerlei Kontrolle mehr." Digitale Dateien können kopiert und weiterverbreitet werden - und manipuliert. Jedem, der dann auf solche Archivalien im Internet stoße, sagt Baumann, müsse klar sein: "Das authentische Dokument findet er nur im Archiv." Auch im Digitalzeitalter bleibt das Stadtarchiv das Gedächtnis der Stadt.

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Quelle:
SZ vom 14.06.2016
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