Digitalanalog-Festival in München :Impulse für die Leistungshölle

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"Trinklust befördernde Lieder" spielen "Ze Stereo Aerobic Amigos" auf dem Digitalanalog-Festival. (Foto: Ze Stereo Aerobic Amigos)

Oberbürgermeister Dieter Reiter fördert Digitalanalog, „Münchens audiovisuelles Vorzeige-Festival“. Was die Stadt der Pop-Szene sonst noch Gutes könnte, wird im Muffatwerk bei der 24. Ausgabe diskutiert.

Von Michael Zirnstein

Herr Schneider kommt nicht. Das ist bedauerlich, denn Herr Schneider gehört zum Inventar des Festivals „Digitalanalog“. Oder besser: Er stellte seit vielen Jahren einen Teil des Inventars in Form eines Synthesizer-Karussells bereit, an dem die Besucher ganz praktisch selbst mit Kabeln und Steckern Töne erzeugen konnten, wie manche Künstler auf den diversen Bühnen. Herr Schneider, der in Berlin Synthesizer vertreibt und selbst eine Art Kunstfigur ist, wachte in seinem grauen Kittel über allem.

Diesmal allerdings muss er andernorts zu einer Musikmesse. Bevor man sich nun aber aufregt, warum man solch wichtige Branchentermine nicht absprechen kann, sagt die Veranstalterin von Digitalanalog, Claudia Holmeier: „Man muss sich ja nicht immer auf der Stelle drehen, wenn Herr Schneider nicht kommt, ist das ein guter Impuls, mal was anderes auszuprobieren.“

Die Pop-Avantgarde strebt voran, und Digitalanalog hat dieses Streben stets abgebildet und gefördert. So ist es auch in seiner 24. Runde „Münchens audiovisuelles Vorzeige-Festival“, wie Schirmherr Dieter Reiter im Grußwort sagt. Der eher in der Rockmusik beheimatete Oberbürgermeister lobt die „spektakulären Kombinationen aus U- und E-Musik, aus Audio- und Videokunst und aus elektronisch generierter und handgemachter Kunst“. Dafür habe die Stadt den Festivalmachern nun wieder für zwei Abende das Muffatwerk gebucht. Nur durch solche Unterstützung kann das Festival wieder bei kostenlosem Eintritt möglichst viele – an die 15000 Besucher – anlocken.

Aber was kann die Stadt noch tun für die aus dem Füllhorn des Kulturetats nicht gerade überschüttete freie Musikszene? Ein „Kulturtalk“ auf dem Digitalanalog soll klären, „warum es auch in einer Stadt wie München schwer ist, ein gutes und bezahlbares Kulturprogramm für junge Leute zu bieten, Zwischennutzungen zu ermöglichen oder dem Schließen der Clubs vorzubeugen“. Antworten sollen die geben, die das verantworten: vier Kulturpolitiker aus dem Stadtrat wie der als kommender Kulturreferent gehandelte Florian Roth von den Grünen. Und Claudia Holmeier will mitreden, wie immer.

Sollte es politisch auch hitzig zugehen, wird es künstlerisch „eher ein besinnliches Festival“. Holmeier meint damit, dass diesmal keine spektakulären Stars gebucht sind. Lieber taucht das diesjährige Programm in fast 30 Konzerten in die heimische Szene ein. Es kommt zwar zum Beispiel Anke Schiemann aus Brooklyn, die „Powerhouse-Performerin“ wandelt als „She’s Excited“ extravagant auf den Spuren von David Bowie oder Grace Jones und verteilt Midi-Kontroller, mit denen das Publikum die Show steuern kann – aber sie ist auch in München verwurzelt. Und auch „Zeuge“, aus Minsk stammender, durch die Undergroundclubs der Welt geisternder Schöpfer „ultramondäner Beatstrukturen“, ist längst in München ansässig.

Lokalhelden: Die "Talking Pets" versprechen einen neuen Sound fürs Festival. (Foto: Isabella Schwarzenauer)

Hier gibt es – ganz die Mission von Digitalanalog – viel Spannendes zu entdecken. Vom 23 Jahre alten Daniel He aus dem chinesischen Wuhan, der in München Architektur studiert und Nick-Drake-artige Songs auf der Gitarre spielt. Oder Fliegende Haie, ein Electro-Pop-Pärchen, das in seinen Texten recht offen thematisiert, dass man sich ursprünglich nur zu einem One-Night-Stand hatte treffen wollen. Oder Ze Stereo Aerobic Amigos aus dem nicht allzu fernen Wenzenbach, die unter Vokuhila-Perücken in knallbunten Proleten-Oufits jene „trinklustfördernde Musikkompositionen“ wie „Kein Bock auf Arbeit“ rausballern, für die sich Deichkind zu schade wären. Könnte witzig werden.

Wenn aus einem One-Night-Stand Musik wird: "Fliegende Haie" machen Elektro-Pop. (Foto: Madeline Jost)

Es gibt auch ein Wiedersehen mit Lokalhelden wie: dem 60-köpfigen Bud Spenzer Heart Chor und seinen Haudrauf-Film-Liedern, mit Darcy, Münchens liebenswert exaltierten Fast-ESC-Kandidaten mit neuem Album „Happy Valley“; mit den Indiepoppern Talking Pets oder dem Live-Electro-Duo Kidso. Sie alle werden sich in neuen Transformationsstufen ausprobieren, und sie alle werden wieder live von Videokünstlern wie Ambient Waves, Sicovaja oder dem bereits seit 1996 mit VHS-Kassetten jonglierenden „Videomaler“ Davido begleitet – oder umgekehrt. Das gegenseitige Befruchten von Bild und Klang war stets das Alleinstellungsmerkmal von Digitalanalog.

Wäre für Deutschland fast einmal zum Eurovision Song Contest gefahren: Der Singer-Songwriter Darcy. Beim Digitalanalog spielt er ein zweites Konzert mit seiner Band "The Charles". (Foto: Marco Trarara)

Wem das zu wenig avantgardistisch erscheint, der kann sich mit Sound-Pionieren wie Sirius Qaint wegbeamen. Er will in seiner Performance „dynamische Quasi-Objekte auf Basis statischer Iteration asymetrischer Sample Loops“ erzeugen, was immer das heißen mag. Sehr abgefahren ist auch die audiovisuelle Kunst in den beiden Studios des Muffatwerks: Ihren „Mediendienst Leistungshölle“ verstehen Klaus Erika Dietl und Steffi Müller (Beißpony, Ragtreasure) als „nomadische Forschungs- und Produktionsstätte“, sie zeigen Kunst-Filme ihres bayerisch-japanischen Kollektivs Alligator Gozaimasu. Und nebenan verbindet sich beim Projekt Remote viewR eine „synästhetische Installation“ per Wlan in Echtzeit mit dem Atelier „Apoth“ des Künstlers Simon Kummer in einer alten Apotheke in Erding. Irgendwie wirken die Besucher durch ihre Präsenz auf die Installation ein – kein Herr Schneider in Sicht, der hilft, da muss man nun alleine durch.

Digitalanalog, Fr., 11. Oktober, 20.30 bis 1 Uhr, Samstag, 12. Oktober, 20.30 bis 4 Uhr, Muffatwerk, www.digitalanalog.org

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