Dietls München:Die Suche nach der Riesensach'

Münchner Geschichten

Tscharlie (Günther Maria Halmer), Achmed (Towje W. Kleiner) und Gustl (Frithjof Vierock) wollen Susi (Michaela May) nicht dabei haben.

(Foto: Intertel Television GmbH)

Tscharlies Ritt durchs Siegestor ist legendär und die "Münchner Geschichten" Kult: Helmut Dietl nutzte 1974 die seltsame Orientierungslosigkeit in der Stadt als Stoff für seine erste große Serie.

Von Karl Forster

Es war an einem Donnerstag vor zwei Jahren, am 11. Juli 2013. Da stieg Günther Maria Halmer noch einmal auf ein Pferd, um durch das Siegestor zu reiten. Für ein Foto mit Symbolcharakter. Er saß etwas verkrampft im Sattel, auch das Lächeln war anders als damals, 1974, als Günther Maria Halmer Tscharlie Häusler war in Helmut Dietls erster großer Fernsehserie "Münchner Geschichten". Aber er wusste um die Bedeutung, um die Geschichte dieses Bildes: Sie kamen von einem Faschingsball, der Tscharlie, der Gustl und der Achmed, sie waren zu müde, um die "ausgeliehenen" Pferde in den Stall zurückzubringen.

Und doch war dieser Ritt mehr als nur ein Ausbruch, ein Abenteuer, etwas Verbotenes mitten auf der Leopoldstraße. Der Himmel war bleischwer, als drohte ein Unwetter über der kalifornischen Metropole Sacramento, dem Ziel der Träume. Die Farben der Gebäude glänzten nicht im fahlen Morgenlicht. Die Gesichter der drei Schlawiner, verloren und doch voller Hoffnung. Das neue Foto des Schauspielers Halmer ist gut geworden. Das Bild aber aus der siebten Folge der "Münchner Geschichten" ist Legende. Es ist eben ein Unterschied, ob man durch das Siegestor reitet; oder ob man durch das Siegestor reitet unter Anleitung von Helmut Dietl.

München mit all seinen Ärmlichkeiten

Es ist eine Auftragsarbeit. Helmut Dietl, er wird in jenem Jahr 30, sollte für das Bayerische Fernsehen eine neue Vorabendserie erfinden, heute würde man sagen, ein Format kreieren. Dietl, aufgewachsen in den Hinterhöfen Laims, kennt München mit all seinen Ärmlichkeiten, Spießigkeiten und Allüren, die auch nach den tragisch-erfolgreichen Olympischen Spielen von 1972 die Stadt prägen. An Geschichten mangelt es ihm also nicht, auch nicht an Typen, die solche Geschichten beleben könnten. Denn es herrscht, bei aller Anerkennung, die München inzwischen weltweit erfahren hat als ach so offene und freundliche Stadt, eine seltsame Orientierungslosigkeit in der Gesellschaft mit ihren kleinen und großen, armen und reichen Protagonisten.

Dieser Zustand ist nicht auf München beschränkt. Es gibt ihn in der Popmusik, die Beatles haben sich vor sechs Jahren schon aufgelöst, die Rockmusik schwankt zwischen Glamour und Punk. Peter Gabriel verlässt Genesis, Patti Smith bringt ihre erste Single "Hey Joe" auf den Markt. Willy Brandt tritt wegen Günter Guillaume zurück. Der RAF-Terrorist Holger Meins stirbt in der Justizvollzugsanstalt Wittlich nach einem Hungerstreik. Der FC Bayern wird zum dritten Mal hintereinander Deutscher Meister, gewinnt gar den Europapokal. Und die Bundesrepublik wird Weltmeister im eigenen Land.

Zwischen Sorge und Stolz, Hoffnung und Zweifel

In München wird 1974 der Viktualienmarkt zur Fußgängerzone geadelt, um Touristen zu zeigen, wie schön es sein kann, Lebensmittel einzukaufen in dieser Stadt. Trotzdem herrscht eine ambivalente Stimmung. Und diese Stimmung ist unsichtbarer Hauptdarsteller in Helmut Dietls neun Teilen der "Münchner Geschichten". Da ist, verloren in der neuen Welt der Siebzigerjahre, der geigende Untermieter Leopold Heinrich, der Tscharlies Oma Anna Häusler in der etwas miefigen Wohnung im Lehel mit so viel Unterwürfigkeit begegnet, dass es weh tut beim Zuschauen. Da ist diese Oma Anna, gespielt von der so großartigen und altersweisen Therese Giehse; sie sagt immer "Karl" zu ihrem Enkel Tscharlie, in einem Ton zwischen Sorge und Stolz, zwischen Zweifel und der leisen Hoffnung, Karls Suche nach "der Riesensach'" könnte allen Widrigkeiten zum Trotz doch einmal erfolgreich sein. Da ist Tscharlies Freund Gustl, der sich von kleinen Hoffnungen auf ein bürgerliches Leben fast korrumpieren und die Freundschaft Freundschaft sein lässt. Und da ist Susi Hillermeier, die diesen verrückten, träumenden, tragischen Schelm Tscharlie über alles liebt und dann doch in ein nichtverrücktes Leben flüchtet. Michaela May zwischen Hoffen und Bangen bleibt unvergessen.

Doch jede Art von Hoffnung zerstörte Geschichtenerfinder Dietl mit großer Lust, ebenso großer Verzweiflung und scharfem Skalpell: Reiche Freunde erweisen sich als ausgemachte Lumpen, echte Freunde werden durch kleine Karrieren entfremdet, Tscharlies Tschiens verkaufen sich nicht so, wie dieser es erträumt hat. Doch jeder Misserfolg bedeutet für ihn: Freiheit. Erst nachdem dank der damals noch nicht Gentrifizierung genannten Gentrifizierung Oma Anna Häusler aus der Wohnung im Lehel nach Neuperlach hinaussaniert wird, spürt Tscharlie, wie klein die von ihm erträumte Freiheit ist.

"Ois Chicago"

Dass Tscharlie auch Helmut Dietl heißen könnte, ist keine Spekulation, oft genug hat sich der Münchner Geschichtenerzähler als Autorenfilmer bezeichnet, der Teile seines Ichs seinen "Helden" schenkte. Das macht diese Figuren so wunderbar zeitlos. Schließlich wurde im Tscharlie-Jahr 1974 zum Beispiel das Model Kate Moss geboren, oder Robbie Williams, oder ein Mann namens Alexis Tsipras, vielleicht ein ähnlicher Filou wir Tscharlie. Berühmtheiten jedenfalls, die heute allesamt für erkennbare Vergänglichkeit stehen. Diese Vergänglichkeit fehlt Tscharlie Häusler. Auch heute noch ist für ihn eben "ois Chicago", also irgendwie in Ordnung.

Am Ende des Serienteiles "Der lange Weg nach Sacramento" sitzen Tscharlie, Gustl und Achmed auf einer Wiese irgendwo im Englischen Garten. Und Gustl sagt: "So is des im Lebn. Zuerst is schee, dann is auf oamoi ois vorbei."

Als Helmut Dietl unlängst im Berliner Tempodrom den Deutschen Filmpreis für sein Lebenswerk überreicht bekam, sagte er: "Danke, danke, danke. Bitte setzt Euch hin, sonst muss ich weinen. Und das will ich jetzt nicht, das mache ich morgen."

Es liegen 40 Jahre zwischen beiden Sätzen. Aber eigentlich ist das nichts. Eigentlich sagen beide Sätze dasselbe.

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