Franz Joseph Freisleder 54, leitet seit 1997 als Ärztlicher Direktor das Heckscher Klinikum und ist Honorarprofessor an der LMU. Er kennt sie alle: Die S-Bahn- und die U-Bahn-Schläger, und jene Schweizer Schüler, die durch München zogen und wahllos zuschlugen. Als psychiatrischer Gerichtsgutachter saß er ihnen gegenüber. Ein Gespräch mit dem Kinder- und Jugendpsychiater über kriminelle Karrieren, Mitgefühl mit Gewalttätern und deren Umgang mit Schuld.
"Oft tun sich Abgründe auf": Franz Joseph Freisleder erstellt psychiatrische Gutachten über jugendliche Straftäter.
(Foto: Catherina Hess)SZ: Wie gehen junge Menschen mit der Schuld um, die sie auf sich geladen haben? Das fragt man sich am Ende eines Jahres, in dem der Tod von Dominik Brunner vor Gericht und der Exzess der Schweizer Schüler verhandelt wurden.
Franz Joseph Freisleder: Als Gutachter kann ich mich zu diesen und anderen konkreten Fällen hier nicht äußern. Generell aber gilt: Um Schuld zu empfinden, muss ich eine Moral haben, ein ethisches Bewusstsein. Jedes Kind entwickelt die Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen. Dieses Empathievermögen entsteht im Alter von drei, vier Jahren, Schritt für Schritt wächst es.
SZ: Und damit auch die Fähigkeit, Schuld zu empfinden?
Freisleder: Der Gesetzgeber hat ja den Begriff der Schuldfähigkeit entwickelt. Ab dem 14. Geburtstag ist ein Jugendlicher strafmündig. Über Schuld an sich kann man aber auch schon bei einem Achtjährigen reden.
SZ: Wie sieht es mit der Verantwortung des Umfelds eines jungen Straftäters aus?
Freisleder: Wenn man dissoziale Karrieren rückblickend betrachtet, ist mitunter festzustellen, dass leider zu wenig passiert ist an Hilfe. Das soll nicht heißen, dass man nach einer entsetzlichen Tat nur fragen soll, was Eltern, Lehrer und Jugendamt möglicherweise versäumt haben. Man sollte sich davor hüten, die individuelle Schuld der Täter vom Tisch zu wischen.
SZ: Wenn jemand unter schlimmsten Bedingungen aufwächst, ist man geneigt zu sagen: Es musste ja so kommen. Was kann der denn dafür?
Freisleder: Selbst dann ist es wichtig, den Jugendlichen dazu zu bringen, die Verantwortung zu übernehmen. Er muss in die Lage kommen, die Tat zu reflektieren, um sich so zum Besseren zu wandeln. Dabei kann ein psychiatrisches Gutachten der Einstieg in eine Therapie sein.
SZ: Sie sind im Gefängnis also einer der Ersten, der hilft?
Freisleder: Als Gutachter schlüpfe ich fast in eine Elternfunktion. In der Regel treffe ich die Beschuldigten mehrfach, rede ausführlich mit ihnen, 20 Stunden kommen mitunter zusammen, bei uns in der Klinik oder in Stadelheim. Dabei macht ein mutmaßlicher Täter oft eine neue Erfahrung: Dass er plötzlich auf das Interesse eines Erwachsenen stößt; dass ihn jemand anhält, über sein Leben nachzudenken und darüber zu sprechen. Das erlebt er oft zum ersten Mal.
SZ: Worüber reden Sie?
Freisleder: Über die Tat und wie sie sich in seine Lebensgeschichte einfügt.
SZ: Als Gutachter sind Sie nicht an die Schweigepflicht gebunden.
Freisleder: Im Gegenteil sogar: Ich muss meine Erkenntnisse vor Gericht vortragen, damit wird alles mehr oder weniger öffentlich. Ich muss den Beschuldigten also, wenn man so will, ein Stück weit "verraten". Es ist aber sein gutes Recht, ganz oder teilweise zu schweigen.
SZ: Verweigern mutmaßliche Täter oft das Gespräch?
Freisleder: Das kommt vor. Ein Grund für das Schweigen können Hemmungen sein, selten einmal Ignoranz. Es kann aber auch zur Verteidigungsstrategie gehören, weil etwa befürchtet wird, dass sich ein Beschuldigter sonst um Kopf und Kragen redet.
SZ: Das Gutachten erstellen Sie dennoch?
Freisleder: Ja. Ich muss mein Wissen dann allein aus den Akten holen und aus der Hauptverhandlung. Das schriftliche Gutachten, das ich vor dem Prozess erstelle, ist nur ein vorläufiges. Ich sitze die ganze Zeit mit im Gerichtssaal, beobachte, höre Zeugen - und formuliere zum Schluss mündlich ein endgültiges Gutachten zu den zentralen Fragen: Wie weit ist der Angeklagte in seiner Reifeentwicklung? War er zur Tatzeit voll schuldfähig oder war seine Schuldfähigkeit wegen einer schwerwiegenden psychischen Störung aufgehoben oder erheblich vermindert?
SZ: Was empfinden Sie, wenn Sie einem Gewalttäter gegenübersitzen?
Freisleder: Einerseits bin ich der nüchterne Analysator. Aber wenn ich mit einem Probanden über dessen Leben spreche, tun sich oft Abgründe auf. Da beginnt dann auch das eigene Mitfühlen und Mitleiden mit dem Täter.