Süddeutsche Zeitung

Die neuen Genossen:Das große Puzzeln

Lesezeit: 3 min

Die Kooperative Großstadt verteilt die Wohnungen in ihrem ersten Haus. Das erinnert an das Computerspiel Tetris

Von Anna Hoben

Wer mit einer Genossenschaft ein Haus plant, braucht nicht nur viel Mut und Vorstellungskraft, sondern auch Geduld. Die Bewohnertreffen sind durchaus abendfüllende Veranstaltungen, Knieschoner wären jetzt übrigens auch nicht schlecht, die Debatte wird nämlich eine Ebene nach unten verlagert. 25 Menschen stehen, sitzen und knien also um die Pläne herum, die am Boden ausgebreitet sind. Je später der Abend, desto enger rücken sie über ihnen zusammen - gerade so, als wollten sie am liebsten gleich einziehen in ihre künftigen Wohnungen, die bisher nur abstrakte Kästchen auf weißem Papier sind.

San Riemo, das erste Wohnhaus der Genossenschaft Kooperative Großstadt, wird konkreter. Das Grundstück in der Messestadt Riem ist gekauft, von November an soll dort gebaut werden, im Konsortium mit den Genossenschaften Wogeno und Wagnis und nach dem Entwurf des Leipziger Architektenbüros Summacumfemmer und Juliane Greb. In den vergangenen Wochen haben die Genossen Grundrisse hin- und hergedreht und überlegt: "Wo pass' ich mit meiner Familie rein?"

So formuliert es der Genosse Gereon, er will mit seiner Frau und dem erwachsenen Sohn einziehen. Was er sich von dem heutigen Abend erwartet? "Dass wir ein bisschen Tetris spielen." Im Seminarraum einer befreundeten Genossenschaft in Berg am Laim beginnt nun also der große Verteilungskampf um die Wohnungen. Wobei, Kampf, das stimmt nicht: Es geht die ganze Zeit sehr harmonisch zu. Ein bisschen erinnert die Frickelei tatsächlich an das Puzzle-Computerspiel. Das kleine Klötzchen ist quasi die Einzimmerwohnung für den Single, Familien mit zwei oder drei Kindern bilden ein größeres, komplexeres Klötzchen. Und wie beim Tetris müssen die Teile perfekt ineinander passen - sonst reicht der Platz nicht für alle Wohnungen. Alle Bewohner haben Wünsche eingereicht, Genossenschaftschef Markus Sowa hat schon mal vorgepuzzelt, und jetzt spielt er die Möglichkeiten mit den Bewohnern noch mal durch. 28 Wohnungen gilt es unterzubringen, außerdem eine Wohngruppe des Frauentherapiezentrums München mit zehn Zimmern. "Es wird nicht jeder sein persönliches Maximum herausholen können", hat Sowa gleich zu Beginn gewarnt. Dennoch ist San Riemo viel flexibler als ein normales Haus mit soundsovielen Zwei- und Drei-Zimmer-Wohnungen, wo man nur entscheiden kann: ja oder nein. Jeder solle überlegen, appelliert Sowa: "Was brauch' ich wirklich, was ist verhandelbar?" Nicht jeder wird oben wohnen können, nicht jeder wird gemäß seinem Wunsch nur Westzimmer bekommen, nicht jeder wird ganz genau den Grundriss kriegen, den er so toll findet.

Möglichkeiten, das Haus aufzuteilen, gibt es jede Menge. "Das ist echt eine Wundertüte", staunt der künftige Bewohner Andreas. Noch wohnt er mit seiner Frau Hannah und dem gemeinsamen Sohn in einer 44-Quadratmeter-Wohnung in Giesing. In San Riemo werden sie wohl dreimal so viel Platz haben: Zu den 100 Quadratmeter ihrer Wohnräume kommt noch ein geräumiges Gemeinschaftszimmer, das sie sich mit anderen Bewohnern teilen werden. Andreas und Hannah haben sich für das sogenannte Nukleus-Wohnen entschieden: eine 2,5-Zimmer-Kernwohnung, die nach Bedarf erweitert werden kann - beziehungsweise in ihrem Fall wieder verkleinert - irgendwann in der Zukunft, wenn Kind oder Kinder aus dem Haus sind. "Es ist so sinnvoll", sagt Andreas, "eigentlich fast komisch, dass das nicht Standard ist". Einen Spitznamen haben sich die Vertreter dieser Wohnform in San Riemo auch schon gegeben, sie sind die "Nukleauten".

Für Andreas und seine Familie ist San Riemo viel mehr als nur ein Experiment. "Es ist die einzige Möglichkeit, wie wir uns vorstellen können, in dieser Stadt zu bleiben." Die Stimmung in der Stadt werde ruppiger, sagt auch der Genosse Mathias. Eigenbedarfskündigungen und exorbitante Mieterhöhungen, "das reißt Lebensplanungen auseinander". Mathias hat keine Lust, sich in fortgeschrittenem Alter noch mal mit 100 Leuten in die Schlange für eine Wohnungsbesichtigung zu stellen. Für die Sicherheit einer lebenslang garantierten Genossenschaftswohnung mit stabiler Miete in der Messestadt Riem haben seine Frau und er beschlossen, ihre Altbauwohnung in Schwabing aufzugeben.

"So eine positive Gruppendynamik hatten wir selten", stellt Mathias an diesem Abend irgendwann fest. Das Haus hat sich gefüllt, zumindest auf dem Papier, in den Kästchen kleben nun bunte Post-it-Zettel mit den Namen der Genossen drauf. Dicke Linien aus schwarzem Klebeband zeigen an, wo das eine Apartment aufhört und das nächste anfängt. "Gibt es Interesse an so einer Wohnung?", ruft Markus Sowa in die Runde - bei der Variante, die gerade diskutiert wird, sind noch ein paar Kästchen übrig. Ein Bewohner lacht. "Das ist ja wie auf dem türkischen Basar", sagt er.

Nach vier Stunden sind drei Pläne beklebt, und die Bewohner stimmen über die Varianten ab. Manche schmieden auch schon sehr konkrete Pläne mit ihren Nachbarn in spe. Nicole und Romeo werden mit zwei Kindern und Hund nach San Riemo ziehen und voraussichtlich neben Oli und seiner Familie wohnen. Sie klären nun, wer welche Allergien hat (zum Glück nur Hausstaub) und ob jemand auf dem Balkon rauchen will (nein). Das passt so gut zusammen, dass sie gleich scherzhaft zur nächsten wichtigen Frage übergehen: Wer putzt wann das Treppenhaus? San Riemo, das klingt nach einem italienischen Sehnsuchtsort. Am Ende wird es aber immer noch ein deutsches Haus.

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Quelle:
SZ vom 13.02.2018
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