Die Isar:Plätschert, sprudelt, flirrt und sirrt

Sie fließt behäbig durch die Stadt, als habe sie Sorge, die Ruhe der Kieselsteine zu stören. Dabei galt die Isar einst, im Mittelalter, als bedrohlich, als "gewaltig wazzer". Manchmal aber zeigt der Fluss noch heute, was in ihm steckt.

Wolfgang Görl

Es war der letzte Blick von mehr als 300 Menschen, die genug hatten vom Leben. Sie haben sich hinabgestürzt, 30 Meter in die Tiefe, auf das Trockenbett der Isar.

Die Isar: undefined
(Foto: Foto: Heddergott / SZ)

Deshalb der Gitterkäfig, in dem man über die Brücke läuft wie ein Raubtier auf dem Weg in die Manege. Der Käfig stimmt traurig, da hilft es wenig, dass die Sonne scheint und die Isar Lichtblitze in den kühlen Morgen sendet.

Träge fließt sie dahin, nur an kleinen Abstürzen flussabwärts kräuseln sich die Wellen. Flow river flow! Zwei Spaziergänger wandern am steinigen Ufer entlang, ein Hund streunt durch die Au. Gehört er zu ihnen oder doch zu dem einsamen Angler, der bis zu den Knien im Wasser steht?

Etwa 200 Meter Richtung Norden ist die Stadtgrenze. Dort beginnt die Liaison München-Isar, die, nimmt man sie als Wegstrecke, knapp 14 Kilometer dauert. Eine seltsame Liaison - und sie lässt sich sehr diskret an: In der Ferne der Olympiaturm und die Kamine des Heizkraftwerks Süd, ansonsten ist nichts zu erkennen, was auf die Existenz einer Stadt hindeutete.

Vielmehr sieht es so aus, als würde die Isar durch eine endlose Aulandschaft fließen, wobei sie eine Behäbigkeit an den Tag legt, dass man meinen könnte, sie hätte Angst, die Ruhe der Kieselsteine zu stören. Für den Moment ist sie alles andere als "die Reißende", wie die Kelten und Römer den Fluss genannt haben. Auch bei den Münchnern hatte die Isar vor Zeiten keinen guten Leumund.

Plätschert, sprudelt, flirrt und sirrt

Sie war "das frei gewaltig wazzer" (so eine Urkunde von 1381), das Häuser, Mensch und Tier mit sich riss, ein wilder Gebirgsfluss, gegen den man sich wappnen musste wie gegen einen Feind. Längst, so scheint es, ist sie ein Freund geworden, der Dichter wie Eugen Roth zu Lobgesängen inspiriert piriert: "Drunten über weißen Kieseln / silbern Wasseradern rieseln / grün an Quadern hingestaut."

Die Isar: undefined
(Foto: Foto: dpa)

Was die weißen Kiesel betrifft, geht die Sache in Ordnung. Am Ufer unterhalb der Großhesseloher Brücke liegen sie in breiter Fläche aus und verströmen die Atmosphäre alpenländischer Gebirgsbachromantik. Auf dem Weg zur Marienklause könnte man auf die Idee kommen, eine unberührte Flusslandschaft zu durchwandern: das Totholz im seichten Wasser, die kleinen Inseln inmitten des Flussbetts, die Kiesbänke, die sandigen Ausbuchtungen; jenseits des Saums aus Kieselgeröll wachsen Gräser, Klee, Feldblumen und Büsche.

Das ist schön und erhaben, und schaut man nicht zu genau hin, beinahe so wie auf der kolorierten Radierung von Georg Hoefnagel aus dem Jahr 1586. Da ist die Isar vor München ein frei mäandernder Fluss mit Nebenarmen, Inseln und weitläufigen Auen. Dazwischen aber liegen mehr als 400 Jahre, in denen die Menschen "das frei gewaltig wazzer" nach ihren Bedürfnissen geformt haben.

Was heute als naturbelassener Fluss erscheint, ist Natur aus zweiter Hand. Vor wenigen Jahren noch mühte sich die Isar hier durch steile Uferböschungen, einem Kanal ähnlicher als einem Gebirgsfluss. Jüngst aber haben die behördlichen Landschaftsregisseure eine famose Wildfluss-Inszenierung hingelegt, die dem aktuellen Gebrauchswert der Isar als Spaßgewässer mit eingebauter Surfwelle gleichwohl Rechnung trägt.

Wenn heute der Eindruck vorherrscht, Stadt und Fluss hätten Frieden geschlossen, dann beruht die vermeintliche Aussöhnung auf dem Diktat des Siegers, das den Unterworfenen in Fesseln zwingt. Doch im August 2005 hat die Isar nach tagelangen Regenfällen noch einmal aufbegehrt. Hat ihre Fesseln gesprengt und Teile des naturnah angelegten Amtsbetts ihrer eigenen Natur angepasst.

Keller liefen voll, Spazierwege wurden weggespült, und gäbe es nicht den Sylvensteinspeicher, der die Wassermassen aus den Bergen zurückhält, wären die flussnahen Stadtteile womöglich komplett überflutet worden. Da war sie wieder, die Isar von einst, die "Reißende", die sich der menschlichen Kontrolle mit ungestümer Kraft entzieht.

In einer Notiz vom 18. Juni 1802 beklagte die kurfürstliche Wasserbaudirektion, dass "die Isar selbst vor den Thoren der Hauptstadt nur unter wüsten Strecken herumwüllen muß und bei einiger Wasseranschwellung in der ganzen Gegend Schröcken und Verheerung verbreitet".

Plätschert, sprudelt, flirrt und sirrt

Die Isar: undefined
(Foto: Foto: Heddergott / SZ)

Da und dort ist es der Isar noch immer gestattet, den tobenden Alpensturzbach zu mimen. An der Marienklause zum Beispiel, wo der Auer Mühlbach mit Getöse abzweigt. Im 19. Jahrhundert versah hier der Schleusenwärter Martin Achleitner seinen Dienst, und weil ihn die Muttergottes mehrmals vor den Fluten gerettet hat, errichtete er aus Fichten- und Birkenholz eine Kapelle samt Kreuzweg - die Marienklause.

Weiter Richtung Altstadt: Sendling, Thalkirchen, Harlaching und Giesing säumen die Isarauen, was nur auf dem Stadtplan ersichtlich ist. Unten am Fluss dürfen sich Spaziergänger der Illusion hingeben, fernab der Urbanität in ungezügelter Natur zu lustwandeln. Die Stadt lässt sich nicht blicken, so als möchte sie nichts zu tun haben mit dem eigenwilligen Gewässer.

Buchstäblich gilt das für das mittelalterliche München, das respektvollen Abstand zur Isar bewahrte, weil man ihr aus guten Gründen misstraute. Erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Siedlungen jenseits des Ufers eingemeindet wurden, fließt die Isar tatsächlich durch München.

Weil man seit je an der Isar herumbastelte, könnte einem einfallen, sie überhaupt als künstliches Gewässer zu betrachten. Die Idee hat schon Karl Valentin gehabt, aufgewachsen im Arme-Leute-Viertel Au. Er schildert den Vorgang so: "Heute Nachmittag drei Uhr dreißig sind genau achthundert Jahre verflossen seit Bestehen der Isar."

Das Isarbett selbst wurde erbaut von Herzog Jakob dem Wäßrigen. Seine Gemahlin, die spätere Kronprinzessin Cenzi von Harlaching, der frühere Kurprinz Maximilian der Wamperte, Großherzog von Kleinhesselohe, waren bei der Isarenthüllung zugegen. Es war ein feierlicher Akt, ein historisches Jubiläum, als die ganze Münchner Bürgerschaft, der Stadtmagistrat samt den Stadtvätern auf der Fraunhoferbrücke standen und jeden Moment auf die ersten Isarwellen warteten.

Plätschert, sprudelt, flirrt und sirrt

Die Isar: undefined
(Foto: Foto: Hess / SZ)

Die Isar trifft dann mit einiger Verspätung ein, mit enthusiastischen Worten begrüßt vom Bürgermeister: "Willkommen, edler Gebirgsfluß (...) Wir können nicht umhin, uns selbst den herzlichsten Dank auszusprechen, denn gerade ich und wir waren es, welche uns am meisten ins Zeug gelegt hatten zur Errichtung einer Isar in der Stadt München."

Am Ende überflutet der Fluss die Stadt, "die haushohen Wellen waren mindestens ein bis zwei Meter hoch", und als die Not am größten war, fanden die Münchner eine sehr münchnerische Lösung: "Dem einen Vorschlag: abzuwarten, bis das Hochwasser selbst aufhört, wurde allgemein zugestimmt, da das auch kostenlos wäre."

Es gibt nicht viele Texte von hoher literarischer Qualität, in denen die Isar eine tragende Rolle spielt. Künstlerisch scheint der Fluss wenig herzugeben, sieht man davon ab, dass er den Malern des 19. Jahrhunderts gelegentlich als Motiv gedient hat. Auch den Komponisten ist es nicht gelungen, die Isar ähnlich berauschend zu vertonen wie Donau oder Moldau.

Sie ist eben doch ein Fluss von minderer Bedeutung und schon gar kein mythenumwobener Schicksalsstrom wie der Rhein. Nicht mal ordentlich schiffbar ist sie, und sollte es früher Menschen gegeben haben, die die Isar als Tor zur Welt betrachteten, so erfolgte ihr Aufbruch zu neuen Ufern auf feuchten Flößen. Dem lockenden Gesang der Lorelei aber hätten sie vergebens nachgelauscht.

Der Flaucher. Hier ist Sommerland. Hier steigen Erinnerungen hoch an glücklich verbummelte Sonnentage, die sich in der Rückschau addieren zu einem einzigen, großartigen, heißen August. Wenn München so etwas wie einen Lido hat, dann ist er hier. Am Flaucher benimmt sich die Isar jugendlich ungezogen. Wirft Geröllhalden auf, gestaltet kiesige Inseln, die bald wieder verschwinden, verzweigt sich in Nebenarmen und Rinnsalen, plätschert, sprudelt, flirrt und sirrt.

Plätschert, sprudelt, flirrt und sirrt

Die Isar: undefined
(Foto: Foto: Hess / SZ)

So möchte man auch sein. Möchte der Zivilisation Lebewohl sagen und wie der Tscharlie in Helmut Dietls TV-Serie Münchner Geschichten an der Isar kampieren, die im Tagtraum zum Rio Bravo wird , wo man rastet auf dem Weg nach Sacramento. Offenbar gedeihen diese Underdog-Träume von einem ganz anderen, abenteuerlichen Leben an der Isar besonders gut. Ein Stück flussaufwärts, nahe der Floßlände, ist das Revier des Cowboy Clubs München, gegründet 1913 von drei jungen Burschen aus dem Arbeiter-Milieu - die Isar als Ort der Sehnsucht.

Früher war sie die Grenze, die die Wohlhabenden von den armen Teufeln schied. Giesing, die Au, überhaupt das rechte Flussufer: Dort lebten Tagelöhner und Grattler, Arbeiter und Witwen, dort war das Revier von Strizzis wie dem "Schönen Karl", dem Helden eines Volkssänger-Couplets aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg:

"I bin von rechts der Isar her, / in Giesing bin i z'Haus, / im schönsten Teil der Münchner Stadt, / da steht mein Vaterhaus. / Mei Vater war ein Maschkera, / mei Mutter in d'Wasch, / mei Bruder, der fahrt Ziegelstoa, / mei Schwester Equibasch. / Mei Onkel sitzt in Stadelheim, / in Wasserburg mei Tant, / mei Vetter, der is hingricht worn, / wie allgemein bekannt. / A feine Blasn san mir scho, / Kreuzdeixel sakradi, / dochs größte Früchtel meiner Seel / von alle, das bin i."

Über die Brudermühlbrücke tost der Verkehr, Sommerland ist hier zu Ende. Der Blick durch die Braunauer Eisenbahnbrücke bietet das erste halbwegs städtische Szenario: die Kirche St. Maximilian, die dunkle Glasfassade des Europäischen Patentamts, der Turm des Deutschen Museums. Unter der Wittelsbacherbrücke trinken sich die Obdachlosen den Tag schön, ein Hund beschnüffelt ihre Utensilien. Matratzen, Körbe, Sessel, ein Tisch, ein löchriges Benzinfass, in dem in kalten Nächten das Feuer brennt.

Plätschert, sprudelt, flirrt und sirrt

Die Isar: undefined
(Foto: Foto: Heddergott / SZ)

Ein paar hundert Meter weiter, an der Reichenbachbrücke, zwängen hohe Ufermauern die Isar in ein steinernes Bett. "Baden verboten. Lebensgefahr", steht in großen Lettern auf dem Wall. Ausgerechnet an dieser Stelle, vor der Museumsinsel, zweigt die so genannte Kleine Isar rechts ab und formt ein innerstädtisches Idyll, einen Flaucher im Kleinen. Sogar Biber sollen hier hausen. Biber mitten in München, unmittelbar am Deutschen Museum, der Kultstätte des technisch-industriellen Zeitalters.

An der Ludwigsbrücke gilt es schon deshalb innezuhalten, weil dies vermutlich der Ort ist, an dem Herzog Heinrich der Löwe zwischen 1156 und 1158 die Brücke errichten ließ, die dem kleinen Dorf Munichen den Aufschwung brachte. Von hier aus sind in gehöriger Entfernung die Frauentürme zu sehen, und selbst das Isartor hält einen beträchtlichen Sicherheitsabstand zum Fluss.

Andererseits war die Isar, sobald sie sich in teils natürlichen, teils künstlichen Bächen in die Stadt ergoss, außerordentlich nützlich. Sie lieferte Energie, trieb Mühlen an, Schmiedehämmer oder Walken für die Tuchherstellung, sie füllte den Stadtgraben zum Schutz vor Feinden und diente in späteren Jahren der Bewässerung der herzoglichen Gärten.

Wer die Isar rechtsseitig stadtauswärts geht, wird schwerlich umhin kommen, eine gewisse Monotonie zu bemerken - die aber auf hohem Niveau. Die Kaskaden hinter der Maximiliansbrücke bieten Auge und Ohr noch eine lobenswerte Dramatik, dann aber begleitet der Fluss geradezu in Bierruhe die Maximiliansanlagen bis zum Friedensengel.

Höhere Aufmerksamkeit erregt erst wieder eine großbürgerliche Villa, die an der Ecke Poschinger Straße/Thomas-Mann-Allee in Bogenhausen steht. Es ist Thomas Manns "Poschi", besser gesagt, ein Faksimile des Hauses. Hier wohnte die Familie Mann, bis sie vor den Nazis fliehen musste. Hier spielt auch die Erzählung "Herr und Hund", in der Thomas Mann die zauberische Atmosphäre der Bogenhausener Isarauen mit milder Ironie in Worte fasst:

"Das ist nun die Zone des Flusses, er selbst liegt vor uns, grün und in weißem Brausen, er ist im Grunde nichts als ein großer Gießbach aus den Bergen, aber sein immerwährendes Geräusch, das mehr oder weniger gedämpft überall in der Gegend zu hören ist, hier aber frei waltend das Ohr erfüllt, kann wohl Ersatz bieten für den heiligen Anprall des Meeres, wenn man dieses nun einmal nicht haben kann."

So kommt der große Gießbach doch noch zu höchsten literarischen Ehren, ehe er die Münchner Fluren bei Unterföhring verlässt. Noch eins muss man zu seinem Ruhm hinzufügen: Als 1983 im Stadtmuseum die Ausstellung "Die Isar" lief, warb dafür ein Plakat des Malers Michael Mathias Prechtl. Er hatte König Ludwig I., ausgestattet mit grotesken Lederflossen, auf ein Floß gesetzt, neben ihm die nackte Lola Montez, von der er seine Finger nicht lassen kann.

Hinter ihnen hält sich der bayerische Löwe mit letzter Kraft am Floß fest. Die Isar aber schäumt und tost, und man ahnt, dass die tollkühne Fahrt nicht lange gut geht. Nur kann man das schwerlich dem Fluss anlasten. Ludwigs Verhängnis hieß Lola. Nicht immer ist es die Isar, die Schröcken und Verheerung verbreitet.

Der Artikel ist entnommen aus dem Heft: München, erschienen im Süddeutschen Verlag.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: