Kotzhügel am Oktoberfest:Die Hölle, das sind die anderen

Kotzhügel am Oktoberfest: Auf dem sogenannten Kotzhügel der Wiesn sind nicht die Alkoholleichen das wirkliche Übel.

Auf dem sogenannten Kotzhügel der Wiesn sind nicht die Alkoholleichen das wirkliche Übel.

(Foto: Anant Agarwala)

Ein Tag am Kotzhügel während des Münchner Oktoberfests reißt Abgründe auf. Doch es sind nicht die Alkoholleichen, die an der eigenen Spezies zweifeln lassen.

Von Anant Agarwala

Gute Wiesn-Gschichten bleiben gut. Der folgende Artikel erschien erstmals 2014.

Noch ein Stückchen nach links, damit das Erbrochene mit drauf ist, stopp, so ist gut, und lächeln bitte. Ein Mann, er trägt Funktionsjacke und Jeans, kniet neben zwei Italienern, der eine in Fötusstellung, der andere platt auf dem Bauch. Er grinst, dann drückt seine Frau auf den Auslöser.

Es ist Vormittag auf der Wiesn, ein Hang an der Westseite des Festgeländes. Dass hier die ein oder andere halbverdaute Mass, Breze oder Hendlhälfte zurück an die frische Luft kommt, ist Teil des Spektakels. Der sogenannte Kotzhügel trägt seinen Namen nicht grundlos, er hat sich in dieser Funktion über Jahre bewährt. Und er steht für vieles, was Wiesnhasser an der Wiesn hassen.

Ein Tag an diesem Hügel führt zu ein wenig Weltschmerz und ein bisschen mehr Wiesnschmerz. Er reißt Abgründe auf, wieder und wieder. Ein Tag an diesem Hügel verläuft in konzentrischen Kreisen, ihr Zentrum ist die Scham. Die Kreise werden größer und größer, entfernen sich vom Zentrum, bis unklar ist, ob dieses jemals existierte. Doch es sind nicht die Kotzenden, die einen an der eigenen Spezies zweifeln lassen. Die Hölle, das sind die anderen.

Teils torkelnd, teils auf allen Vieren

Der Himmel ist verdeckt von einer, so scheint es, einzigen schmutzgrauen Wolke. Aus dem Hofbräu-Festzelt links dröhnt die "Seven Nation Army" der White Stripes, rechts wünscht der Himmel der Bayern dem BVB alles Schlechte zum Muttertag. Am Vormittag sitzen und liegen hier etwa 20 Briten auf dem Hügel, sie tragen Kostüme aus dem 18. Jahrhundert, dreieckige Hüte und weiße enge Hosen mit Rasenflecken am Hintern. Ein paar von ihnen frühstücken Brathendl mit Eistee und Sprite, ein paar liegen regungslos da, so wie der stolze Admiral mit Feder am Hut. Ansonsten ist der Kotzhügel ein Idyll. Nur da unten stolpert nun ein massiger Typ Richtung Ahornbaum, lehnt sich an und beginnt zu würgen. Um kurz nach zwölf ist es angerichtet.

Am oberen Ende des Hügels stehen Bänke im Schatten dichter Linden. Wer nun hier sitzt, der wird verschluckt von einer Endlosschleife, die einen bis zum Abend nicht mehr ausspuckt. Teils torkelnd, teils auf allen Vieren, bevölkern Betrunkene den Hang. Mal kommt es schwergängig, mal im Strahl, wie in einem Adam-Sandler-Film. Mal hält jemand stützend den Kopf der Freundin, mal klatscht und johlt ein Kumpel im Takt. Der eine schleppt sich ein paar Meter weiter, der nächste bricht über dem gerade Erbrochenen zusammen. Alle paar Minuten schwappt ein "Prosit" aus einem der Zelte, im Hintergrund dreht sich das Kettenkarussell in 35 Metern Höhe, und unten, auf der Straße, rotieren Sanitäter zwischen Opfern.

Mit der Zeit wirkt das alles fast normal. Nur die nicht völlig Betrunkenen, frei von menschlichen Zügen, machen das Gaffen zur Qual.

Brüste, die das Display füllen

Oben am Hang liegt eine Amerikanerin auf dem Rücken, ihre Brüste fallen fast aus dem Dirndl, der Rock ist bis zum Hintern hochgerutscht. Eine Gruppe Männer, sie sind so um die 40, sitzen in ihrer Nähe und freuen sich. Einer von ihnen hoppst die paar Meter zu ihr den Hang hinunter, Fluppe im Mund, Handy in der Hand. Er geht dann gerade so nah an sie heran, dass sie nicht aufwacht, lehnt sich vor und fotografiert ihren Ausschnitt. Zoomt noch ein bisschen, macht zu Sicherheit drei, vier Bilder und klettert zurück zu seinen Kumpels. Gemeinsam bestaunen sie die Brüste, die das Display füllen. Dann, er hat jetzt Mut gefasst, klettert er wieder runter, kuschelt sich an sie und macht ein paar Selfies zur Erinnerung. Es sind Fotos von ganz unten.

Selfie-Jäger grasen den ganzen Hügel nach Beute ab, legen sich neben alles, was bewusstlos scheint, und grinsen in die Kamera. Andere versuchen, Steinchen und Stöckchen in Ausschnitte zu werfen, und als sich eine Freundin später besorgt zu der Amerikanerin herunterbeugt, ruft ein Typ mit dem penetranten Hang zur Wiederholung: "Touch her boobs! Just fucking touch them!" Die Freude am Elend anderer - das ist es, was einen am Kotzhügel in den Abgrund blicken lässt.

Auch das gehört dazu: Momente des Mitgefühls

Am Fuße des Hangs riecht es stark nach Urin, die Schlange vor dem Klocontainer ist lang. Viele Männer gehen an die Rückseite, stellen sich dort in die Pfütze, um sie zu vergrößern. Auch hier liegen Menschen, wie ohnmächtig im Pissedunst.

Ein junger Amerikaner, er ist seit Mittag Dauergast am Hügel, scheint seine letzte Ruhestätte für den Tag gefunden zu haben. Ein Bein ist ungesund eingeknickt, ein Arm im Jackenärmel verheddert, die ehemals olivgrüne Hose, die Sneaker, die Jacke: gleichmäßig matschbraun verkrustet. Immer wieder schubsen ihn Leute an, vielleicht aus Sorge, vielleicht aus Neugier. Einer, die Hand gerade noch am urinierenden Gemächt, hält sie nun über den Mund des Fremden und prüft, ob er noch atmet. "He is definitely alive!" ruft er, es ist die ehrliche Freude eines Betrunkenen. Immerhin, auch das gehört zum Kotzhügel: kurze Momente des Mitgefühls.

Als es dunkel wird, leuchtet der ferne Turm des Kettenkarussells in Regenbogenfarben, auf dem Kotzhügel verblassen die karierten Hemden und Dirndl zu Grau. Ein paar der Briten sind zurückgekehrt, einer isst tatsächlich wieder Hendl. Und unten, im Schatten des Ahornbaums, verprügelt eine sehr betrunkene Frau mit wilden Hieben ihren Freund. Dann bricht sie weinend zusammen, fleht ihn an, mit gefalteten Händen wie zum Stoßgebet; es geht wohl um ihre Beziehung. Viele, die auf dem Weg nach Hause sind, bleiben stehen, zücken ihr Handy und machen sicherheitshalber ein Video.

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