Süddeutsche Zeitung

Umgang mit Übergriffen:Leitplanken für den Fall der Fälle

Was ist wenn? Wenn es zwischen Beschäftigten zu Grenzverletzungen kommt? Die Diakonie hat aus ihrem Desaster gelernt und einen Leitfaden erarbeitet. Alle Arbeitgeber sollten vorbeugen, um im Ernstfall nicht planlos zu agieren.

Kommentar von Bernd Kastner

Es erinnert an eine Versicherungspolice, was die Diakonie vorgelegt hat. Eine Broschüre, 20 Seiten plus 16 Seiten Anlage: "Zum Umgang mit sexualisierter Gewalt zwischen Beschäftigten." Der Leitfaden ist eine Versicherung für den Fall der Fälle. So ein Fall ist in der Diakonie München und Oberbayern vergangenes Jahr eingetreten. Eine Mitarbeiterin erhob Vorwürfe gegen den Vorstandssprecher, er habe im Kontakt zu ihr Grenzen überschritten. Er selbst bestreitet das, es steht Aussage gegen Aussage. Was die Angelegenheit für die Beteiligten und die Diakonie beinahe zum Desaster machte: Es fehlten Regeln für den Umgang mit solchen Vorwürfen. Was tun, wenn - egal ob es um einen deplatzierten Spruch oder körperlichen Übergriff geht. Die damals Verantwortlichen in dem evangelischen Sozialunternehmen waren zu lange planlos, sodass am Ende alle Beteiligten beschädigt waren, auch die Diakonie.

Darauf mit Häme zu reagieren, weil im sensiblen Spannungsfeld aus Nähe und Distanz wieder mal im kirchlichen Bereich etwas schiefgelaufen ist, wäre töricht. Planlosigkeit ist kein exklusives Problem der Kirchen und ihrer Verbände. In der Diakonie haben sie gelernt und recherchiert, um von guten Vorlagen aus anderen Betrieben zu profitieren - sie haben nichts gefunden. Das heißt nicht, dass es wirklich nirgends so etwas gäbe, aber man muss annehmen, dass nicht viele Institutionen vorgesorgt haben. Es sagt viel, wenn sich Personalchefs zweier Kommunen aus dem Münchner Umland bei der Diakonie-Chefin melden und um deren neuen Leitfaden bitten. Und das gut fünf Jahre nach Beginn der "Metoo"-Debatte, die gezeigt hat, dass unter Kolleginnen und Kollegen, erst recht zwischen Führungskräften und Mitarbeitenden jeden Geschlechts viel passieren kann. Jede Firma, jede Behörde, jeder Verein tut gut daran vorzusorgen.

Ein Regelwerk für den Fall der Fälle ist auch ein Zeichen der Wertschätzung an die Belegschaft: Wir achten auf euch. Wir nehmen die Person ernst, die einen Vorfall meldet, wir schützen sie. Und wir gehen zugleich fair mit der Person um, die beschuldigt wird.

Gewiss, solch einen Leitfaden zu erarbeiten und zu leben kostet Geld, wie es auch eine Versicherung gegen Berufsunfähigkeit tut. Die ist ebenfalls teuer, und man fragt sich regelmäßig: Ich bin doch gesund und fit, brauch ich das? Wenn man sie nicht braucht und bis zur Rente viel Geld vermeintlich umsonst ausgegeben hat, darf man sich glücklich schätzen. Das gilt auch für Unternehmen, wenn sie die Leitfäden und Vorlagen nicht benötigen. Allein, die Erfahrung lehrt, dass viele Beschäftigte und viele Unternehmen solcher Leitplanken bedürfen, als Versicherung gegen Handlungsunfähigkeit.

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