Süddeutsche Zeitung

Diakoniachef Dieter Sommer:"Ich wollte nachhaltig etwas für Menschen tun"

Die Diakonia beschäftigt Mitarbeiter, die lange arbeitslos gewesen sind: Flüchtlinge, Menschen mit Behinderung. Nun geht der Geschäftsführer in den Ruhestand - und verrät, was ihn glücklich macht.

Von Gerhard Fischer

Dieter Sommer verlässt den Lagerraum der Diakonia. Ein junger, schlaksiger Mann läuft auf ihn zu. Der Mann strahlt, er gibt Sommer die Hand, deutet eine Umarmung an und steigt dann in einen Kleintransporter. "Er ist ein Flüchtling aus Ghana und arbeitet hier als Kraftfahrer, er transportiert Möbel", sagt Sommer. Der junge Mann sei taubstumm. "Er kann sehr stolz darauf sein, dass er den Anforderungen unserer Arbeitswelt standhält."

Dieter Sommer, 63, ist offiziell noch bis zum 31. März Geschäftsführer der Diakonia. Aber er hat sein Büro in der Dachauer Straße bereits geräumt - für seine Nachfolger Sandra Bartmann und Thomas Rosenberger. Er ist zum Gespräch früher da als vereinbart. Sommer, er trägt Sakko, Weste und einen weißen Kinnbart, der in der Mitte nach unten ausfranst, bittet seinen Gast in ein kleines Vorzimmer. Er hat eine Butterbreze dabei und bietet Getränke an.

Eine Mitarbeiterin bringt Flyer herein. Auf den Flyern steht "der Auftrag" der Diakonia, die von der Inneren Mission München und der Evangelischen Kirche getragen wird - und die es seit 25 Jahren gibt: "Die Diakonia ist eine gemeinnützige Organisation, die für Menschen in schwierigen Lebenslagen oder mit Behinderung Arbeitsplätze schafft." Sommer sagt es so: "Die Diakonia kümmert sich um Menschen, die übrig bleiben. Alle waren vorher langzeitarbeitslos."

Die Diakonia beschäftigt 400 Menschen, die geflüchtet sind, behindert sind, Schulden haben, psychische Probleme haben, mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Sie arbeiten, zum Beispiel, in Kleiderkammern in Neuhausen, in denen sich bedürftige Menschen kostenlos Mäntel oder Röcke holen können. Oder in dem Laden "Lebhaft" in der Schleißheimer Sraße, in dem Antiquitäten angeboten werden. Oder im Kaufhaus der Diakonia, das sich im gleichen Gebäude wie die Verwaltung befindet: in der Dachauer Straße 192.

Sommer steht auf, ohne den Kaffee angerührt zu haben. "Ich zeige Ihnen das Kaufhaus", sagt er. Es ist kein weiter Weg zu den Verkaufsräumen - die Treppe runter ins Erdgeschoss und einen kurzen Gang durchqueren; aber Sommer sagt in dieser Zeit sieben Mal "Hallo". Das liegt daran, dass ein Gewusel herrscht; aber auch daran, dass Sommer offenbar beliebt ist, denn die Mitarbeiter grüßen sehr freundlich, manche überschwänglich.

Sommer breitet die Arme aus, als er im Verkaufsraum im Erdgeschoss angekommen ist. "Jeder kann hier einkaufen", sagt er. "Es gibt Studenten, die mit den Möbeln ihre erste Wohnung einrichten." Sommer zeigt auf Betten und Schränke.

Außerdem gibt es Tassen, Teller, Kinderwagen, Schlitten, DVD, Gesellschaftsspiele, Gemälde, Bücher. Gerade werden Bücher angeliefert. Sommer sieht das, lächelt und sagt: "Hier geht's rund." Aber er meint auch die Kunden, die durch die Drehtür kommen, Körbe nehmen und durch die Gänge schlendern. Einige kramen in Pappkartons, in denen Kerzenleuchter und Töpfe liegen. Andere gucken sich kleine Tiger, Bären und Mäuse an. "Jedes Kuscheltier 0,50 Euro" steht auf der Kiste. Alles, was in den Verkaufsräumen angeboten wird, ist Second Hand. "Wir verbinden die soziale mit der ökologischen Aufgabe", sagt Sommer. "Wir verlängern die Lebensdauer der Produkte."

Man merkt schon nach den ersten Minuten, dass Sommer das alles gerne herzeigt. Aber nicht im Sinne von: Das habe ich alles geschaffen. Sondern eher: Ich freue mich sehr, dass den Menschen geholfen werden kann. "Ich bin von unserer Arbeit überzeugt und begeistert", sagt er in der nächsten Stunde einmal, zweimal, dreimal.

Sommer geht in den hinteren Teil des Verkaufsraumes. "Hier ist unser Café Mocca", sagt er. "Wir haben auch einen hauswirtschaftlichen Bereich, in dem etwa 100 Leute arbeiten." Diese backten Kuchen für das Café Mocca, aber vor allem seien sie für die Kitas zuständig. Die Diakonia versorge 21 Kitas in München mit Essen. Sommer präzisiert: "Das ist regionale Frischküche." Er verlässt den Verkaufsraum und das Gebäude, überquert eine Straße im Hinterhof. Sommer will das Lager zeigen. "Spendenannahme" steht darüber. "Textilien, Möbel, Hausrat, Elektrogeräte, Tinten und Toner." Die Autos stehen Schlange, wie bei einem Wertstoffhof. Als hätte Sommer die Gedanken erraten, sagt er: "Wir sind eine echte Alternative zum Wertstoffhof." Die Spender seien vor allem Münchner Bürger, manchmal auch Boutiquen, die der Diakonia die Vorjahresmode oder die Ware nach Geschäftsauflösungen überlassen. Jährlich sind das 2000 Tonnen Textilien.

Im Winter 2015 und 2016 sei die Dachauer Straße blockiert gewesen, erzählt er; die Autos seien bis zur Borstei gestanden. "Im Zuge der Flüchtlingshilfe gab es eine unglaubliche Spendenbereitschaft."

Sommer geht ein paar Schritte in den Lagerraum hinein. "Hier werden die Sachen sortiert und in die jeweiligen Geschäfte gebracht", sagt er. Manche würden auch online verkauft, über Ebay oder Amazon.

Er verlässt den Raum, trifft den Ghanaer und geht zur letzten Station des Rundgangs: in die Werkstatt im Keller. "Das Jobcenter schickt die Leute zur Diakonia", sagt Sommer, während er die Treppe hinunter geht. "Und wir überlegen: Wo sind ihre Talente? Wo sind die Aufgaben, bei denen sie wieder Anerkennung bekommen nach der äußeren und inneren Entwertung aufgrund der Langzeitarbeitslosigkeit." Sozusagen Reparaturen am Selbstwertgefühl. Manche schaffen es auch, nach einer Ausbildung bei der Diakonia auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wechseln.

Sommer ist im Keller angekommen. Man sieht Fernseher und DVD-Player. "Hier werden Elektrogeräte überprüft und einfache Reparaturen durchgeführt", erklärt er. Sommer geht in den Nebenraum, in dessen Mitte eine Hobelbank mit einer Kreissäge steht. Die Schreinerei. Ein älterer Herr schraubt an einem Möbelstück herum. "Der handwerkliche Bereich ist genauso wichtig wie das Kaufhaus", sagt Sommer. "Nicht zu vergessen unser Malerfachbetrieb - der arbeitet auf dem freien Markt mit Leuten, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht mehr unterkommen." Man merkt, wie Sommer das beeindruckt.

Das Tempo sei bei der Diakonia natürlich niedriger als auf dem freien Markt, sagt er. "Wir beschäftigen mehr Menschen und besetzen manche Stelle doppelt. Teilweise arbeiten sie auch stundenweise wegen physischer oder psychischer Einschränkungen." Aber jeder müsse sich selbstverständlich produktiv einbringen. "Die Leute verdienen hier erheblich über dem Bundesmindestlohn", sagt Sommer, "aber natürlich ist es mit Geld, das sie bei der Diakonia bekommen, kein Zuckerschlecken in einer Stadt wie München." Die Diakonia hat übrigens einen Umsatz von zwölf Millionen Euro jährlich. Die Hälfte sind öffentliche Aufträge und Zuschüsse, die Hälfte gewerbliche Aufträge.

Sommer geht zurück ins Treppenhaus, sagt ungefähr sieben Mal "Hallo", landet wieder im ersten Stock und setzt sich auf den Stuhl im kleinen Vorzimmer. Der Kaffee steht dort noch unberührt. "Ich trinke ihn auch kalt", sagt er und lächelt.

Während des Rundgangs hatte er gesagt, eine erfüllte Erwerbstätigkeit gehöre zu einem Leben dazu. Das gilt doch auch für ihn, Dieter Sommer?

"Ich bin sehr glücklich am Ende meiner beruflichen Laufbahn", sagt Sommer, der ein weltlicher Geschäftsführer war. "Ich konnte selbstbestimmt und meinen eigene Werten folgend arbeiten - die größten Werte sind für mich die soziale Gerechtigkeit und Partnerschaft." Er habe dabei immer die Augenhöhe gesucht. "Ich wollte nicht führen, sondern den Menschen Möglichkeiten geben." Das wäre ein schönes Schlusswort für seine persönliche Bilanz. Aber er ist noch nicht fertig. Man merkt, dass er nachdenkt. Er hat etwas Redliches und Ernsthaftes, er will wohl mit den richtigen Worten vermitteln, was sein Haus und was ihn ausgemacht hat. Auch Kreativität sei für seine Management-Tätigkeit wichtig gewesen, sagt er dann; etwa wenn es darum gegangen sei, Förderung zu erhalten. Und er will ein Danke los werden. "Die Stadtpolitik hat sehr viel mitgetragen", sagt er.

Dieter Sommer ist in München aufgewachsen und wollte schon als Teenager Sozialarbeiter werden. "Ich war mit der Evangelischen Jugend bei Freizeitaktivitäten mit behinderten Kindern, das war ein Schlüsselerlebnis", sagt er. Sommer studierte Sozialpädagogik, leitete den Jugendtreff Harthof und danach die Beratungsstelle für Arbeitslose beim Diakonischen Werk in Rosenheim. "Ich merkte dort, dass man mit Beratung alleine nicht weiter kommt", sagt er. "Ich wollte Ausbildungs- und Trainingsmöglichkeiten schaffen und nachhaltig etwas für Menschen tun, die nicht so mit dem Strom mitschwimmen können." Er gab ihnen Arbeit auf einem kleinen Trödelhof, wo sie Entrümpelungen machten und Hausmeisterdienste erledigten; es waren "erste Anfänge eines Beschäftigungsprogramms".

Sommer erzählt, dass Günther Bauer, Geschäftsführer der Inneren Mission in München, ihn Mitte der Neunzigerjahre in Rosenheim besucht habe. "Er sagte, er wolle das auch in München machen: einen sozialen Beschäftigungsbetrieb aufbauen." Und aufbauen sollte ihn Dieter Sommer.

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SZ vom 14.03.2020/lfr
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