Süddeutsche Zeitung

Deutscher Jazzpreis:Auf der Suche nach dem Spirit

Künstlerisch zeigt sich der Jazz derzeit sehr fortschrittlich. Beim neu ins Leben gerufenen "Deutschen Jazzpreis" lässt sich aber noch einiges verbessern

Von Oliver Hochkeppel

So viel Publikum haben die meisten von uns seit eineinhalb Jahren nicht mehr erlebt", stellte Ulrich Habersetzer in der Unterfahrt fest. Freilich war es kein "echtes" Publikum, sondern Musiker, Journalisten und Mitglieder diverser Technikteams. Stand doch die Verleihung des "Deutschen Jazzpreises" auf dem Programm. BR-Mann Habersetzer war einer der vier Moderatoren der Mammutveranstaltung, die als Livestream aus der Unterfahrt, den Jazzclubs "A-Trane" in Berlin und "Ella & Louis" in Mannheim sowie einem Hamburger Fernsehstudio gesendet wurde. Der "Deutsche Jazzpreis" ist ein Neustart in der Nachfolge des "Echo Jazz", der 2018 im Sog des Skandals um die Nominierung der Rapper Kollegah und Farid Bang für den Pop-"Echo" mit in den Untergang gerissen wurde.

Man war also gespannt, was sich die wichtigsten und klügsten Köpfe der Szene unter Federführung der "Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien", Staatsministerin Monika Grütters, und der Initiative Musik ausgedacht hatten, um "das Scheinwerferlicht auf die Vielfalt, Kreativität und kommunikative Kraft des Jazz" zu richten, wie es Grütters formuliert hatte. Um also das immer noch allzu oft als Schmuddelkind der Branche angesehene Genre ein paar Aufgeschlossenen mehr als die in Wahrheit momentan progressivste und pluralistischste Kunstmusik nahe zu bringen. Dazu hatte man schon vorab einige Macken des alten Echo begradigt. Statt eines feuchten Händedrucks, wie ihn der Bundesverband der Musikindustrie früher nebst Statue ausgereicht hatte, gab es nun für jeden Gewinner ordentliche 10 000 Euro. In Frage kamen dafür nicht nur von den Labels (gegen eine Gebühr) eingereichte Künstler, sondern alle, die von fünf Vor-Jurys und der Hauptjury - paritätisch und aus allen Branchenbereichen besetzt - vorgeschlagen wurden. Und für den Verleihungsakt selbst hatte man sich bemüht, so viele Nominierte wie möglich - drei in jeder Kategorie, die wie bei der Oscar-Verleihung in Split Screen eingeblendet wurden und nichts vom Ausgang wussten - live auf die Bühnen zu bekommen. Nicht wie früher nur die, von denen man beim Fernsehen annahm, dass sie populär genug sind.

Es ging auch ganz gut los bei den ersten Club-Schalten. Bei der ersten Live-Musik aus der Unterfahrt deutete der Berliner Trompeter Sebastian Studnitzki mit einem erst sphärischen, dann immer elektronischeren Solo an, wie sehr sich der aktuelle Jazz unter Wahrung seines Spirits und Beibehaltung der Stilregeln von dem entfernt hat, was die breite Masse immer noch unter dem Begriff "Jazz" versteht. Und die Übergabe des ersten Preises in der Kategorie "Vokal" war dann gleich der emotionale Höhepunkt: Der in Berlin lebenden Schweizerin Lucia Cadotsch rannen bei ihrer Dankesrede zu brechender Stimme die Tränen herunter, als sie gestand, wie sehr sie seit Monaten Kollegen und Konzerte vermisst.

Stutzig wurde man, als bereits sehr früh und sehr kurz das Kölner Loft als "Bester Jazzclub" ausgezeichnet wurde. Eine sinnvolle neue Kategorie, aber dramaturgisch verschenkt, zumal überdies nur aus einem der nominierten gesendet wurde, der Unterfahrt nämlich. Die kam immerhin später noch beim "Sonderpreis" zum Zug, den sie für ihre Verdienste um die Beschäftigung und Einkünfte der Musiker während des Lockdowns durch ihre vielen Streamingkonzerte erhielt. Schon da war es aber zäh geworden. 31 Kategorien wollten abgearbeitet werden, die 14 wichtigsten mit Laudatio und Dankesworten, dazu kamen Einspieler und Live-Musik. Dreieinhalb Stunden dauerte das alles in allem, da erlosch auch in der Unterfahrt allmählich das Applausfeuer, das angesichts des ungewohnten Get-Togethers anfangs aufgelodert war. Zumal nicht jeder begnadete Jazzer auch ein begnadeter Redner ist. Man tappte mit dieser Überfrachtung in die Falle, in der inzwischen die meisten ähnlichen Veranstaltungen von den Grammys bis zum Oscar sitzen. Nicht erst seit den Corona-Beschränkungen und dem wachsenden Stream-Überdruss sind dort die Quoten im freien Fall, und auch die Medienresonanz und Klickzahlen des Deutschen Jazzpreises fielen enttäuschend aus. Aber es war immerhin ein Anfang.

Man habe bei den Sitzungen genau protokolliert, was man in Zukunft noch verbessern könne, erzählte die BR-Redakteurin und Sprecherin der Hauptjury Beate Sampson. Auch als neutralem Beobachter fiel einem einiges auf, was zumindest diskutabel ist. Zuallererst die Doppelung von nicht weniger als neun Kategorien durch "national" und "international". Weil es die Zeremonie aufbläht. Weil kaum einer der ausländischen Musiker außer per Standbild präsent war. Weil derart unpersönliche Verkündungen kaum die Attraktivität des Preises steigern. Und weil man in den internationalen Kategorien auch eine Entwertung der nationalen sehen kann - so gut wie alle Nominierten haben internationales Niveau. Die Konzentration auf wenige ausländische Gaststars wäre klüger. Wie die grandiose abschließende Gratulation von Herbie Hancock an den Lebenswerk-Preisträger, den Veranstalter Karsten Jahnke, bewies.

Hilfreich wäre außerdem, wenn man über den "inner circle" hinaus auch Jazz-Laien vermitteln könnte, was die Gewinner besonders und zu Siegern macht. Die meisten Jurybegründungen und Kollegen-Laudationes schafften das nicht. Dass viele Entscheidungen, etwa für Aki Takase, Markus Stockhausen, Julia Hülsmann oder Christian Lillinger, schon den Kern einer "Lebenswerk"-Ehrung in sich trugen, muss man den Jurys in einem Jahr nachsehen, in dem es kaum etwas live zu sehen gab. In Zukunft werden sie sicher wieder mehr aktuelle Verdienste im Blick haben.

Aus lokalpatriotischer Sicht war auffällig, dass es nicht ein einziger in München lebender Musiker unter die Nominierten geschafft hatte. Klar, die Berliner und Kölner Szenen sind viel größer und Lobby-technisch präsenter. Trotzdem hätte man sich den einen oder die andere vorstellen können, vielleicht mit der Jazzrausch Bigband als Speerspitze. Macht nichts, man zeigte sich in der Unterfahrt als bewährt guter Gastgeber und feierte hinterher umso fröhlicher mit den vielen Berlinern.

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Quelle:
SZ vom 05.06.2021
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