Wer morgens oder mittags am Harras oder am Giesinger Bahnhof unterwegs ist, kann sich schon mal fast wie in Paris vorkommen. Bunt gemischt ist das Straßenbild, von überall her dringen französische Wortfetzen ans Ohr. Nicht, dass alle fast 9500 in München lebenden Franzosen - rechnet man die frankophone Gemeinde dazu, sind es noch ein paar tausend mehr - sich in Sendling oder Giesing angesiedelt hätten. Aber ihre Kinder, die gehen vorzugsweise hier zur Schule: auf das Lycée Jean Renoir.
Münchens deutsch-französische Schule hat eine lange Tradition. 1953 wurde die nach dem berühmten Filmregisseur benannte Einrichtung als Ergebnis einer Elterninitiative am Institut français gegründet. Zunächst ging es vor allem darum, den Kindern hier stationierter oder beschäftigter Franzosen Unterricht in ihrer Sprache und ihrem System zu ermöglichen. Als man 1965 in eigene Räume in der Oettingenstraße umzog, zählte man 165 Schüler. Mit der deutsch-französischen Aussöhnung, die ja in dieser Zeit zur Freundschaft wurde, nahm die Idee Gestalt an, die Schule zu öffnen und "die deutsche Zivilisation, Kultur und Sprache zu integrieren", wie es noch heute auf der Homepage heißt.
1976 erhielt die Grundschule vom Freistaat Bayern die Genehmigung als "Ersatzschule", das heißt, mit dem Besuch wird der Schulpflicht genügt, Abschlüsse freilich werden nicht anerkannt. Wer sein Kind zum Beispiel nach der vierten Klasse auf ein deutsches Gymnasium wechseln lassen will, muss es Probeunterricht mit Prüfung machen lassen. Auch die Mittlere Reife wird hier nicht erworben. Aber natürlich bietet die Schule das AbiBac an, also den gymnasiale Doppel-Abschluss mit französischem Baccalaureat und deutschen Abitur, was auch von der Mehrheit der Schüler wahrgenommen wird. Bis dahin freilich ist so einiges anders als auf einer deutschen Schule.
Die Lehrer sind aus Frankreich abgeordnet
Was damit beginnt, dass das Lycée Jean Renoir fest in das französische Schulsystem eingebunden ist. Anders als im föderalistischen Deutschland lernt jedes französische Kind, ob in Paris, in Amman, in Montreal oder in Tokio, im Prinzip denselben Stoff und schreibt die exakt gleichen Bac-Prüfungen. Die Aefe (agence pour l'enseignement francais à l'étranger, auf deutsch: Agentur für französische Erziehung im Ausland) wacht darüber, als Träger von mehr als 490 Schulen in 135 Ländern der Welt mit 330 000 Schülern - kein anderes Land betreibt annähernd ähnlichen Aufwand. Ihren Abschluss an französischen Schulen machten beispielsweise Filmstar Jodie Foster, Ex-UNO-Generalsekretär Boutros Boutros Ghali oder der schwedische Regisseur Ingmar Bergman.
Und so ist auch am Lycée Jean Renoir das Schuljahr in Trimester eingeteilt, die Grundschule dauert fünf, nicht vier Jahre, der Kindergarten ist bereits Vorschule, und in den umfangreichen Zeugnisheften stehen Noten nicht von Eins bis sechs, sondern von A bis D. Auch die verbeamteten französischen Lehrer (gut die Hälfte des etwa 100-köpfigen Kollegiums, und meist auf Zeit aus dem Mutterland verpflichtet) dürfen wie ihre angestellten französischen und deutschen Kollegen streiken, was auch schon das eine oder andere Mal vorgekommen ist.
Trägerschaft der Schulen:Konkurrenz belebt das System
Betreuung, Förderung, Angebote: Nicht nur der Freistaat, sondern auch die Stadt München betreibt Gymnasien und Realschulen. Vielen Eltern ist das nicht bewusst - dabei setzt die Stadt an den Schulen eigene Akzente.
Das französische System gilt als strenger, pädagogisch konservativer, noch einen Tick leistungsorientierter. Dafür ist auch die Betreuung am Lycée Jean Renoir intensiver: Bis ins Gymnasium hinein korrespondieren die Lehrer über ein "Cahier de liaison" nahezu täglich mit den Eltern; beim kleinsten Problem wird um ein Gespräch gebeten. Die Klassen sind mit maximal 20 bis 25 Schülern klein, Nachmittagsbetreuung an der Grundschule und Nachhilfe ("Soutien") am Gymnasium ist selbstverständlich.
Bis zur vierten Klasse wird zusätzlich zum französischen Stoff Deutsch sowie Heimat- und Sachkunde nach bayerischen Lehrplänen unterrichtet; jede Klasse hat einen französischen und einen deutschen Lehrer. Auf dem Gymnasium wird dann nur noch Deutsch nach bayerischem Lehrplan und auf deutsch gelehrt. Umsonst ist dieses Angebot nicht: Anders als normale deutsche wie französische Schulen kostet das Lycée Jean Renoir ordentlich Schulgeld: je nach Alter zwischen 3500 und 5000 Euro im Jahr - was vor allem bei den Franzosen selbst ein seit jeher umstrittener Punkt ist.
Trotzdem ist das Lycée attraktiv, nicht nur für Franzosen. Seit Jahren setzt sich die Schülerschaft konstant so zusammen, wie Direktor Eric Galice-Pacot ausführt: Gut die Hälfte sind Kinder französischer Eltern (die Töchter von Bayern-Star Franck Ribéry beispielsweise), etwa 20 Prozent haben deutsche Eltern (wie die Zwillinge von Giulia Siegel), der Rest stammt aus anderen Ländern.
Eine Schule in zwei Gebäuden
Nicht grundlegend anders war dies schon 1977, als die Schule kurz nach der Genehmigung durch den Freistaat mit 380 Schülern in einen wuchtigen Altbau in der Berlepschstraße nahe des Harras einzog. Nach und nach wurde jeder Gebäudewinkel ausgenutzt, um der steigenden Nachfrage Herr zu werden und bis zu 800 Schüler aufzunehmen. Trotzdem waren die Wartelisten lang, viele Eltern erhielten eine Absage. Also wurde 2007/2008 Maternelle und Elementaire (Kindergarten und Grundschule) in einen großen Gebäuderiegel direkt am Giesinger Bahnhof verlegt, in der Berlepschstraße blieb nur das College und Lycée (das Gymnasium). "Viele denken deshalb heute, wir wären zwei Schulen. Wir sind aber eine Schule mit zwei Gebäuden", erklärt Co-Rektor Jean-Pierre Aiello.
Frühstück an Münchner Schulen:Tischlein deckt sich nicht allein
Weil viele Schüler morgens mit leerem Magen und ohne Pausenbrot kommen, wird an immer mehr Schulen Frühstück angeboten. Ohne die Hilfe von Vereinen und Ehrenamtlichen wäre das nicht möglich. Und das gemeinsame Essen macht nicht nur satt, sondern bewirkt noch sehr viel mehr.
1440 Schüler besuchen derzeit die deutsch-französische Schule in München, was sie zur größten Einrichtung ihrer Art in Deutschland macht. Doch Aiello und Galice-Pacot denken nicht sorgenfrei an die Zukunft: "Wir haben in diesem Jahr erstmals weniger Neueinschreibungen als Plätze im Kindergarten gehabt. Auch wir werden in Zukunft Werbung machen müssen", sagt Aiello. Und Galice-Pacot ergänzt: "Wir spüren die seit Jahren wachsende Konkurrenz, nicht zuletzt der deutschen Gymnasien, die AbiBac anbieten. Viele Franzosen, die wissen, dass sie oder ihre Kinder in Deutschland bleiben, schicken ihre Kinder inzwischen lieber aufs deutsche System. Außerdem hat Frankreich die "Bourses scolaires", die Zuschüsse zum Schulgeld, heruntergefahren."
Erstmals wird das Lycée Jean Renoir deshalb im kommenden Jahr einen Stand auf der Münchner Schulmesse einrichten. Da werden Galice-Pacot und Aiello schon nicht mehr dabei sein: Ihr Fünf-Jahres-Turnus endet vorher. Galice-Pacot verteidigt den steten Wechsel in der Schulleitung nach Vorbild der Kulturinstitute und Diplomaten: "Das bringt immer Dynamik herein und neue Sichtweisen." Der Erfolg der Schüler scheint ihm recht zu geben: Bislang nehmen jeweils gut 60 Prozent der Absolventen ein Studium an den Münchner Universitäten auf, gut ein Viertel die Préparation für die Grandes Ecoles in Frankreich, zehn Prozent gehen ins Ausland.