Derblecken am Nockherberg:Im Wurstkessel der Bavaria

Derblecken am Nockherberg: Illustration: Hassân Al Mohtasib

Illustration: Hassân Al Mohtasib

Am Nockherberg ist die Bavaria fürs Leviten-Lesen zuständig, die Kunst des Politiker-Derbleckens steht im Freistaat hoch im Kurs. Doch erfunden haben sie nicht die Bayern.

Ein Gastbeitrag von Gerd Holzheimer

Am Anfang war das Derblecken, möglicherweise. Wir waren ja nicht dabei, wie zum ersten Mal ein Mensch gelacht hat. Deshalb wissen wir auch nicht, was er gar so lustig gefunden hat, dass, vom Zwerchfell ausgehend, in dem die Griechen den Sitz der Seele vermuteten, die Wampe ins Wackeln geriet. In der Verhaltensforschung gilt die These, dass Schadenfreude der Auslöser gewesen sein könnte; also wenn zum Beispiel einer vor einem Mammut davonrennt, und dann rutscht er auch noch auf einer Wurzel aus. Gar nicht lustig. Aber dass da einer lachen muss, kann leicht sein, jedoch nicht nur aus Schadenfreude, sondern weil die Situation, obgleich saugefährlich, gleichzeitig auch saukomisch ist. Ein eiszeitlicher Olaf Thon würde sagen: "Erst hatten wir kein Glück, dann kam auch noch das Pech dazu."

Franz Xaver Baader, ein exzentrischer katholischer Theologe - so etwas gibt es auch, und das im München der Spätromantik - würde in dem geschilderten Szenario ein "Brechen oder gar Explodieren der Angstspitze" erkennen, das sich eben in einem Lachanfall artikuliert. Gut möglich aber auch, dass der arme Kerl, der vor dem Mammut auch noch auf einer Wurzel ausrutscht, sich derbleckt fühlt, falls er überhaupt noch Zeit gehabt haben sollte dafür.

Zähne und Bier

Auch wer des Bairischen nicht mächtig ist, mag erkennen, dass aus dem Wort "derblecken" hervorgeht, dass hier Zähne im Spiel sind, wenn es um das Lachen geht: "blecken" meint Zähne blecken, also Zähne zeigen. Auf jeden Fall ist das Präfix "der-" "an intensifying prefix" und "blecken" "the causative of blicken", (Otto Hietsch: Bavarian into English - Lexical and Cultural Guide). Außerdem vergisst Hietsch nicht, darauf hinzuweisen, dass Derblecken immer "with strong beer" einhergeht: "A form of cabaret that bluntly takes a shot at Bavarian politicians". Der sogenannte "Dialektprofessor" Ludwig Zehetner (Bairisches Deutsch - Lexikon der bairischen Sprache in Altbayern) gibt als Beispiele für Verben mit der Vorsilbe "der" unter anderem an: "derbatzen, derbröseln, derhutzen, dersaufen, derscheißen, derwutzeln".

Fürs Derblecken auf dem Nockherberg ist wichtig zu wissen, dass derjenige, der derbleckt wird, das furchtbar lustig finden muss, dass er derbleckt wird, erstens weil sonst die anderen meinen, dass er keinen Spaß versteht, zweitens weil noch schlimmer wäre, wenn er nicht derbleckt werden würde, weil dann die anderen offiziell bestätigt bekommen, was sie ohnehin schon wissen, nämlich dass er nicht mehr wichtig ist. Inzwischen ist der Bruder Barnabas eine Bavaria, und die gibt trefflich die Luise Kinseher. "So schaut's aus!", sagt dann die Luise, und alle freuen sich.

Ein ästhetisches historisches Gesamtkunstwerk: Die Bavaria

Die Bavaria, die auf dem Nockherberg dem Volk der Bayern die Leviten liest, ist klug gewählt: die Bavaria als kolossale Allegorie Bayerns, als bayerische Pallas Athene, eine göttliche Erscheinung, die keine Kirche mehr braucht, weil sie die griechische Antike im Kreuz hat, Verkörperung Bayerns, gegossen von Stiglmaier und Ferdinand Miller d. Ä., entworfen von Schwanthaler, von dem auch die Heiligen Vier Könige Thukydides, Homer, Aristoteles und Hippokrates vor der Bayerischen Staatsbibliothek geschaffen sind. Ein ästhetisches historisches Gesamtkunstwerk in jedem Falle.

Diese Vereinigung von Bayern und Griechenland, von wuchtiger Schutzpatronin und klassischer Ästhetik, von Erzgießerei und Marmorsäulen wird bei Carl Orff sprachlich zur "mousikae", in der "die Worte des Altgriechischen, Lateinischen, Mittelhochdeutschen und auch des Altbairischen . . . als Teile einer Partitur, eines szenisch-musikalischen Vorgangs" zu hören sind (Wilfried Feldhütter: Hinweise zur alpenländischen Literaturgeschichte). Mousikae, das ist ein Klang: "kyrieeleisderbarmdiunser!" ist zutiefst Wesen und Klang des Bairischen.

Die Griechen, sie Erfinder des Derbleckens

Erfunden haben wir Bairische das Derblecken nicht, so gern wir es hätten. Auch darin sind uns die Griechen Vorbild. Aristophanes zum Beispiel, Komödienschreiber von Beruf, war ein Großmeister des "Derbleckens". In seinen Stücken marschieren Küchengeräte als Zeugen bei einem Prozess auf, Wespen, Frösche und Vögel stürmen die Bühne, die Frösche quaken "brekekekex, koax, koax" und die Nachtigall singt: "tiotiotiotiotinx". Auf Altgriechisch heißt "derblecken" "diakomodeîn tina", jemand verspotten oder auch "sauber durchlassen", zweimal mit Omega bitteschön, das zweite Omega mit Jota subscriptum (aber so geht's ja schon mal los: Des kenna mir, oh ihr Götter, überhaupt nimma drucka, im griechischen Original!).

Noch stärker focussiert mit "onomastì komodeîn", also dass man jemand auch ganz persönlich, beim Namen genannt, derbleckt. Im Fall des Aristophanes den Kleon, Gegner des Perikles, in der Komödie "Die Ritter", den er gewaltig auffischiassn (id est: derblecken) will, als hinterfotzigen Demagogen. Ein Wurstverkäufer mit dem Namen "Agorakritos", also "Standl-Politiker", soll ihn stürzen, was die Sache nicht besser macht. Metzgersöhne haben in der griechischen wie in der bairischen Politik an Mordsstand (standing).

Der Würstlstand als abendländische Denkerbude

In der antiken Komödie entwirft der Standl-Politiker eine strahlende Vision: "Er steckt alle Welt in seinen Wurstkessel, rührt alles kräftig durch . . ., bis jeder aus diesem Gral wieder emporsteigt wie Phönix aus der Asche, in der ehrwürdigen Tracht eines Marathonkämpfers, aber zum Würstchen verjüngt", so Lenz Prütting in seiner phänomenologischen Studie über Wesen, Formen und Funktionen des Lachens mit dem Titel "Homo ridens". Der "demokratische Wurstkessel als Jungbrunnen, der Blutwursthändler als der neue Hoffnungsträger der athenischen Polis" - das muss man sich mal geben: Blunzen gebacken, Abendland pur. Der Würstlstand als abendländische Denkerbude: Da täten's spitzn, die Pegidas!

Doch mutmaßt Prütting, dass Aristophanes in der Wirklichkeit wenig bewirken konnte mit seinem Derblecken. Es könnte stattdessen vielmehr direkt in das von ihm selbst erfundene Wolkenkuckucksheim "Nephelokokkugía" führen. Der nämliche Effekt, den einmal ein CSU-Ortsvorstand nach einer Veranstaltung mit Gerhard Polt so unübertrefflich auf den Punkt gebracht hat: "Ohne uns gäb's dich gar nicht!"

Da die Komödie, so argumentiert Prütting, "sich als Waffe im tagespolitischen Meinungskampf verstand und ihre Mittel darin bestanden, den verhaßten politischen Gegner der Lächerlichkeit preiszugeben, mußte sie für diese Dramaturgie des Lächerlichmachens so viel an Witz und Komik investieren, daß mit und in dem Lachen über den lächerlich gemachten politischen Gegner zugleich auch der Zorn oder Haß auf ihn mit weggelacht wurde und gleichsam uroborisch verrauchte." Ja, heißt denn das, dass sich mit dem Lachen die Schlange "uroborisch" in den eigenen Schwanz beißt, und jede, vor allem politische Wirkung damit aufhebt? Oder ist es vielmehr so, dass ein Derblecken auf höherem Niveau eh von keiner Sau mehr verstanden wird, einfach weil die Voraussetzungen von genau denen, die es treffen soll, abgeschafft worden sind, von den bayerischen Bildungspolitikern? Die den weltweit außerordentlich hohen Standortvorteil, den Bayern einmal in der Bildung seiner Jugend hatte, in eine flächendeckende Schneise geistiger Schwachstromtrassen verwandelt haben. In den Wolken des Aristophanes ist es ein Strepsiades, der zu blöd ist, die einfachsten grammatikalischen Grundlagen zu begreifen.

Latein statt Englisch in der Schule

Bleibt nichts als die Rückkehr zu einem wahrhaft humanistischen Gymnasium, in dem es auch kein Englisch mehr braucht, denn das könnte man ja direkt zu etwas brauchen, also mit Latein selbstverständlich als erster Fremdsprache, denn die Römer haben es schon auch können, das Derblecken. Von der "Apocolocyntosis" spricht Seneca, der Verkürbissung seines Kaisers Claudius, der bei ihm nuschelt, hinkt und gern spielt. Ein Nachfolger in der Schule der Stoa ist selber Kaiser von Beruf, Marc Aurel mit Namen. Von ihm stammen die Selbstbetrachtungen, die man jedem Selbsterfahrungskurs als erste Lektion empfehlen möchte, denn das Buch heißt im Original "ta eis eautón", also wörtlich übersetzt: "gegen sich selbst", auf Lateinisch: ad se ipsum; das ist gemeint mit "Selbstbetrachtungen": Was man gegen sich selbst einzuwenden vermag. "Nicht verkaisern" möchte er, der gute Mann, das wünscht man jedem Politiker.

Also nächst dem Latein Altgriechisch wieder als zweite Fremdsprache auf den Lehrplan gesetzt, sodann Hebräisch als dritte und gleichzeitig Mittelhochdeutsch als nicht wirklich weitere Fremdsprache, die vor allem für Kinder und Jugendliche aus Familien, in denen Bairisch gesprochen wird, in der genetisch bedingten gaumenkonformen Artikulation von "uo"-Lauten kein Problem darstellt, im Gegenteil - und damit darüber hinaus das Süddeutsche als die eigentliche, die wahre Literatursprache des Deutschen in jenes klare Bewusstsein befördert, wo es schon immer ist, derblecken inklusive: "Ahî, wie kristenlîche nû der bâbest lachet" (Walther von der Vogelweide in seinem "Unmutston", Erste Opferstockstrophe), also wie der Papst recht christlich grinst. Für bairische "native speaker", die der schon wieder im Orkus der Vergessenheit geratenen Forderung von CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer folgen, dass auch daheim Deutsch gesprochen werden muss, erweitert sich die Sprachenfolge freilich um "daitsch" als erste Fremdsprache.

So wird - wie Werner Herzogs "Fitzcarraldo" die Molly Aida aufs Amazonashochufer - bayerische Bildungspolitik wieder da den Isarhang hinaufgeschoben, wo sie als bairisches Dionysostheater in Form des Nockherberges parnassmäßig hingehört. Oder müssen wir uns am Ende doch der These des Lachforschers Prütting beugen - und damit dem Welthit einer in Bayern als Rollschdoana Buam bekannten Volksmusikgruppe: "You can't always get, what you want" in der kongenialen Übersetzung von Klaus Hübner: "Du konnsd ned imma hom, wos' grad mogst." Und uns nix anders bleibt als unser geliebtes Derblecken.

Der Autor ist Schriftsteller und Lehrbeauftragter für bayerische Literaturgeschichte an der LMU.

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