Hellmut Mehnert hat das, was er gerade gesagt hat, vermutlich schon öfter gesagt als seinen eigenen Namen: "Es heißt der Diabetes, nicht die Diabetes." Schließlich komme der Name von Diabetes mellitus, was übersetzt etwa "hindurchgehender süßer Harn" bedeute. Die meisten Menschen sagen die Diabetes, und Mehnert muss sie dann immer korrigieren.
Hellmut Mehnert ist einer der bedeutendsten Diabetologen Deutschlands. Wer seinen Namen in eine Internet-Suchmaschine eingibt, liest sofort "Hellmut Mehnert Diabetes". Mehnert hat eine Diabetes-Forschergruppe gegründet; er hat nach einem USA-Aufenthalt neue Diabetes-Tabletten in Deutschland eingeführt; er war der deutsche Vertreter im Diabetes-Experten-Komitee der Weltgesundheitsorganisation; und er war an der Entwicklung der Insulinpumpe beteiligt. "Insulin ist bei Diabetes das wichtigste Medikament", sagt er, "lebensrettend bei Typ 1, lebenserhaltend bei Typ 2". An diesem Donnerstag wird Hellmut Mehnert 90 Jahre alt.
Ein 90-Jähriger hat viel erlebt. Ein 90-Jähriger wie Hellmut Mehnert, der eine Arztkarriere hinter sich hat und privat vielseitig interessiert ist, hat mehr zu erzählen, als in einen kleinen Artikel passt. Man redet mit ihm natürlich über Diabetes, aber man kann auch darüber sprechen, dass er an Fasching von Horst Tapperts Maskenbildner Peter Krebs so gut verkleidet wurde, dass ihn Kollegen nicht erkannten, oder dass er einst den Schauspieler Gert Fröbe behandelte. Oder darüber, dass er mehr als zwei Jahre in einem sowjetischen Gefangenenlager zugebracht und nur knapp überlebt hat.
Also, der Diabetes. Mehnert war Mitte der Fünfzigerjahre Assistenzarzt an der Poliklinik in München, als er von seinem Oberarzt angesprochen wurde: "Mehnert, Sie müssen 14 Tage in der Diabetiker-Ambulanz Vertretung machen." Mehnert zog nicht recht, er sagte, dass Diabetes "eine langweilige Krankheit" sei. "Nein, die ist spannend", entgegnete der Oberarzt, "und es gibt jetzt erste Tabletten."
Hellmut Mehnert, der im Wohnzimmer seines Hauses in Krailling sitzt, macht eine kurze Pause und lächelt. Dann sagt er: "Aus den 14 Tagen sind mehr als sechs Jahrzehnte geworden." Er fand die Krankheit dann doch spannend; er sagt, er habe in dieser Diabetes-Ambulanz, die er schließlich leitete, "als junger Mann Pionierarbeit leisten dürfen". Es war die Zeit, als Diabetes Typ 2 zur Volkskrankheit wurde, denn sie entsteht durch Übergewicht und Bewegungsmangel - und bei der Wiederaufbaugeneration der BRD war der Wohlstandsbauch eben ein Statussymbol. "Es waren die fetten Jahre", sagt Mehnert.
Und sie sind nicht vorbei. Zwar gibt es heute immer mehr Menschen, die sich gesund ernähren - aber immerhin zehn Prozent der Deutschen haben Diabetes.
Hellmut Mehnerts Frau Ulrike kommt an den Tisch. Sie bringt Kaffee und den Lebenslauf ihres Mannes - es sind sechs Seiten, damit alles Platz findet: Mehnerts berufliche Stationen, Ehrungen, Publikationen (mehr als 1500), Vorträge (mehr als 3500) oder Mitgliedschaften. So war er - unter anderem - von 1966 bis 1993 "Chefarzt der III. Medizinischen Abteilung des Akademischen Lehrkrankenhauses München-Schwabing". Ebenfalls wichtig: 1968 gründete er die Forschergruppe Diabetes; die Stadt München und die Deutsche Forschungsgemeinschaft machten daraus wenig später das Institut für Diabetesforschung in Schwabing.
"1967", sagt Mehnert vom Sofa herüber, "haben wir die größte Früherfassungaktion in München gemacht." Fast 800 000 Münchner hätten mitgemacht, 7000 Diabetiker seien neu entdeckt worden.
Man könnte fast unendlich weitermachen mit Aktionen und Stationen des Diabetologen Hellmut Mehnert. Es würde zu weit führen. Aber eine Sache muss doch noch erzählt werden, jene mit dem Schauspieler Gert Fröbe, der sein Patient gewesen ist. Natürlich gibt es ein Arztgeheimnis, und natürlich hält sich Mehnert daran, auch wenn Fröbe schon seit 30 Jahren tot ist. Aber dass Gert Fröbe Diabetes hatte, ist längst bekannt, das darf Mehnert sagen. Und er erzählt dann noch, dass der Schauspieler seinen Rat, das Gewicht zu reduzieren, nicht annehmen wollte. "Fröbe sagte, er bekomme nur als Dicker Rollen", sagt Mehnert.
Hellmut Mehnert wird jetzt 90, aber er hat noch lange nicht aufgehört, sich mit dem Diabetes zu beschäftigen. Er hält 20 bis 30 Vorträge im Jahr, schreibt Kolumnen in vier Ärzte-Zeitschriften, besucht Kongresse. "Ich bin absolut in der Materie drin - so gut wie noch nie, weil ich jetzt mehr Zeit habe als früher", sagt er.
Sein DIN-A 4-Lebenslauf liegt jetzt auf dem Tisch. Auf Seite 1 steht, gleich nach der Zeile "Abitur 1946" in Leipzig: "1946 bis 1948 russische Haft". Der junge Hellmut Mehnert war beim Volkssturm, jener militärischen Formation, in der Jugendliche und ältere Männer kurz vor Kriegsende zu den Waffen gerufen worden waren. Die Sowjets rechneten Mehnert aber der - von Himmler gegründeten - Partisaneneinheit "Werwolf" zu, verhafteten ihn im April 1946 kurz nach dem Abitur-Ball und steckten ihn ins Lager Mühlberg an der Elbe. "Ein Drittel der Menschen, die dort inhaftiert waren, haben das nicht überlebt", erzählt Mehnert, "sie starben an Hunger oder Tuberkulose - das hatte epidemische Ausmaße." Mehnert selbst wäre auch fast verhungert. "Es gab nur Graupen, Graupen, Graupen", sagt er. Oder Pülpe. Das sei wie Sägemehl, erzeuge ein Völlegefühl, sei aber sehr ungesund. "In diesem Lager habe ich beschlossen, Mediziner zu werden", sagt er, "ich habe dort gesehen, was man alles tun kann, um zu helfen."
Es ist kurz still im Wohnzimmer. Hellmut Mehnert sitzt auf seinem Sofa, und man merkt ihm nicht an, wie sehr ihn die Zeit in Mühlberg heute noch bewegt. Er sagt dann bloß, dass er großes Interesse an Geschichte habe, "negativ hervorgerufen durch den Holocaust, positiv durch die Wiedervereinigung." Und er finde es "ganz furchtbar", wie sich der AfD-Politiker Poggenburg gerade über türkische Mitbürger geäußert habe, und dass dessen "Kameltreiber"-Hetze im Saal bejubelt worden sei. Er wirkt traurig, als er das sagt.
Mehnert wechselt das Thema, nennt weitere Hobbys, etwa klassische Musik und den FC Bayern. Und er erzählt, dass sie Bilderbücher für Enkel und Urenkel gestalten, er mache die Verse, seine Frau die Zeichnungen.
Ach ja, und die Sache mit dem Maskenbildner von Tappert alias Derrick? "Ich hatte große Lust an der Verkleidung", sagt Mehnert. "Ich habe mich im Fasching immer kostümiert und bin in die Klinik - zum Beispiel habe ich einen alten, verwirrten Patienten gespielt oder einen anglikanischen Krankenhauspfarrer, und die haben mich oft nicht erkannt." Mehnert lächelt. Seine Frau schaltet sich ins Gespräch ein. "Der Dekan", sagt sie, um ihn zu erinnern. "Ach ja,", sagt er, "ich bin als südafrikanischer Herzverpflanzer verkleidet in die Klinik und der Dekan der medizinischen Fakultät hat mich offiziell empfangen und nicht erkannt."
Hellmut Mehnert hat den Kaffee ausgetrunken, er sagt noch, dass an diesem Samstag im Klinikum Großhadern zwei Jubiläen gefeiert würden: 50 Jahre Forschergruppe Diabetes und 90 Jahre Helmut Mehnert; er werde dort einen Vortrag halten mit dem Titel "Das Leben, das Glück und der Diabetes". Und dann verrät er noch seine E-Mail-Adresse - sie enthält neben seinem Namen das Wort Diabetes.