Ausspekuliert-Demo:An der Wohnungsfrage entscheidet sich die Zukunft der Stadt

Paare, die sich nicht mehr lieben, bleiben in einer Wohnung, vierköpfige Familien leben in zwei Zimmern. In München sind die Menschen nicht nur gegen die Wohnungsnot auf die Straße gegangen - sondern auch für ein buntes Miteinander.

Kommentar von Anna Hoben

Es geht eine Angst um in München: die Wohnangst. Doch Angst ist bekanntlich nie ein guter Ratgeber. Deshalb haben die Münchner ihr am Samstag fröhlich und friedlich, aber lautstark die Stirn geboten. Die große Mieterdemonstration "Ausspekuliert" hat der Politik deutlich gemacht: So geht es nicht weiter.

Wohnen ist ein Grundrecht, in der Bayerischen Verfassung, Artikel 106, klingt das zum Beispiel so: "Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung." Die Realität sieht anders aus. Wer eine einigermaßen passable Wohnung hat, der rührt sich besser nicht. Denn etwas Neues, Bezahlbares zu finden - das ist in München nahezu unmöglich geworden. Deshalb bleiben Paare, die sich nicht mehr lieben, in der gemeinsamen Wohnung. Deshalb wohnen vierköpfige Familien in zwei Zimmern. Deshalb kommen alte Menschen gar nicht erst auf die Idee, ihre eigentlich viel zu große Wohnung zu verlassen, für eine kleinere würden sie meist mehr bezahlen. Man nennt das den Lock-in-Effekt: eingeschlossen im eigenen Zuhause.

Existenziell wird die Sorge, wenn in der Stadt mit den höchsten Mieten in Deutschland eine kräftige Mieterhöhung ins Haus geflattert kommt. Wenn der Vermieter wegen Eigenbedarfs kündigt. Wenn das Haus von einem Investor gekauft wird, der luxuriös modernisiert, um hinterher doppelt so viel kassieren zu können - oder die Wohnungen gleich in Eigentum umzuwandeln.

Es war ein lauer Abend im Juni, als sich in einer kleinen Münchner Kneipe ungefähr 90 Menschen zum ersten Mieterstammtisch trafen. Ja, die Wohnangst war dort zu spüren. Doch es überwog an jenem Abend etwas anderes: Optimismus. Die Idee, eine Demonstration zu organisieren, wurde in jener kleinen Kneipe geboren. Was die Initiatoren, alle auf unterschiedliche Weise vom Mietwahnsinn betroffen, nun in drei Monaten auf die Beine gestellt haben, ist beeindruckend. Mit ihrem sogenannten Auszug der Münchner haben sie gezeigt, was der Stadt eines Tages fehlen könnte. Wenn nur noch jene willkommen sind, die am meisten Geld mitbringen, wird die reiche Stadt ärmer. Einfältiger, weniger bunt.

Die Stadt München hat die Dringlichkeit erkannt, sie schöpft mittlerweile alle Möglichkeiten aus, die ihr zur Verfügung stehen. In Neubaugebieten vergibt sie einen großen Teil ihrer Flächen an Genossenschaften, die ihren Mitgliedern langfristig bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stellen. Vor Kurzem hat der Stadtrat eine Mietpreisbremse für die stadteigenen Wohnungen beschlossen. Die Erhaltungssatzung, die dem Milieuschutz dienen soll, wurde verschärft, die Schlupflöcher für Investoren sind enger geworden. All das kommt freilich Jahre zu spät. Es reicht auch längst nicht aus. Und die entscheidenden Weichen für eine vernünftige Wohnungspolitik werden in Berlin gestellt.

Die Münchner sind am Samstag nicht nur für bezahlbaren Wohnraum auf die Straße gegangen, sondern auch gegen soziale Ausgrenzung. Beides hängt untrennbar zusammen. Es ging am Samstag um nichts weniger als um die Frage, wie die Stadt in Zukunft aussehen soll.

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