Demenz-WG: Alternative zum Pflegeheim:Wer will, schält Erdbeeren

Wer möchte, darf unkonventionell kochen und in fremden Schränken wühlen: Sieben hilfsbedürftige alte Damen wohnen gemeinsam in einer Demenz-WG in München. Ein Besuch.

Sarina Pfauth

Frau Schneider macht kehrt. Gerade wollte sie in ihr Zimmer gehen und dort etwas erledigen. Aber dann hat sie plötzlich vergessen, was es war. "Ach", sagt sie. Und geht zurück zum großen Tisch, an dem sechs Damen sitzen und gemeinsam versuchen, ein Kreuzworträtsel zu lösen. "Englisch Ei?" - "Egg", sagt eine. Zwischendurch erzählen die Damen von heute und früher und von Erlebnissen, die sie wahrscheinlich gar nie hatten.

Demenz-WG: Alternative zum Pflegeheim: In der Demenz-WG gibt es keinen Stundenplan. Spiele, Spaziergänge, Kaffeekränzchen: Jeder darf teilnehmen, keiner muss.

In der Demenz-WG gibt es keinen Stundenplan. Spiele, Spaziergänge, Kaffeekränzchen: Jeder darf teilnehmen, keiner muss.

(Foto: Foto: dpa)

Woanders würde sie wohl jemand anfahren und sagen: Der Heinz, der ist doch schon lange tot. Oder: Du warst doch noch nie in Italien, das ist doch Schmarrn. Aber hier, am Kaffeetisch, darf jeder sagen, was er gerade für richtig und wahr hält. Diese Wohnung ist ein Ort, an dem Realitäten verschwimmen. Wo Vergangenheit und Gegenwart ineinander übergehen. Es ist ein freundlicher Ort.

Eine Million Demenzkranke

Hier, in einem Neubau gegenüber dem Messegelände in Riem, wohnen sieben demenzkranke Frauen zusammen in einer WG. Rund um die Uhr ist mindestens ein Betreuer eines ambulanter Pflegedienstes da, der sich um die alten Menschen kümmert.

Zurzeit leben nach Angaben des Gesundheitsministeriums rund eine Million Demenzkranke in Deutschland. Aufgrund der immer höheren Lebenserwartung ist davon auszugehen, dass in Zukunft noch mehr Menschen von dieser Krankheit betroffen sein werden. Rund vier Fünftel der Demenzkranken werden von ihren Angehörigen zu Hause betreut. Zu 85 Prozent sind es Frauen - Ehefrauen, Töchter und Schwiegertöchter -, die diese schwierige Aufgabe übernehmen.

Was aber, wenn kein Angehöriger die Pflege übernehmen kann oder will? Die Antwort hieß bislang meist: Heim. Alternative Wohnformen für alte, hilfs- oder pflegebedürftige Menschen erfreuen sich in den vergangenen Jahren aber zunehmender Beliebtheit - auch in München.

Allerdings sind Wohnmodelle wie eine Demenz-WG in der bayerischen Landeshauptstadt im Vergleich zu Berlin noch selten. Grund dafür ist vor allem, dass der Wohnraum rar ist - und teuer. Auch die Initiatoren des Trägervereins "wohlbedacht" suchten lange nach geeignetem Wohnraum. Und es gab noch viel mehr Hindernisse zu überwinden: "Am Anfang", erzählt Vereinsgründerin Sonja Brandner, "sind wir permanent gescheitert." An fehlender finanzieller Förderung, an gesetzlichen Vorgaben, an mangelnder Unterstützung durch die Behörden.

Alleine ging es nicht mehr

Schließlich landete die Idee beim "start social"-Wettbewerb in der Bundesauswahl, es gab ein Treffen mit dem damaligen Kanzler Gerhard Schröder und die Stadt München wurde auf das Projekt aufmerksam. Trotzdem dauerte es "Tausende Arbeitsstunden", erzählt Brandner. "Aber wir dachten, wir machen das tollste Projekt der Welt. Deshalb sind wir drangeblieben." Wir, damit meint Sonja Brandner sich selbst und die Tochter einer Demenzkranken, mit der sie sich zusammengetan hatte. Brandner unterschrieb den Mietvertrag, als von dem Neubau noch nichts zu sehen war, nur ein leerer Baugrund.

Von der Idee bis zur fertigen Wohnung verstrichen etwa sieben Jahre. Im April 2008 zogen schließlich die ersten Bewohner ein - unter anderem Margarethe Grunwald, 83. Zuvor hatte die betagte Frau alleine gewohnt. Ihre Schwiegertochter war jeden Abend vorbeigekommen, um nach ihr zu sehen; und hin und wieder besuchte Margarethe Grunwald die Tagesbetreuung von Sonja Brandner, wo sie basteln und Menschen treffen konnte. Aber Margarethe Grunwald wurde älter und die Krankheit schritt fort und irgendwann ging es nicht mehr alleine.

Auf der zweiten Seite lesen Sie, was die Demenz-WG von einem Heim unterscheidet - und worüber sich die Bewohner streiten.

Wer will, schält Erdbeeren

Ihre Schwiegertochter fing an, Heime abzuklappern. Bis ihr schließlich Brandner von ihrem Projekt erzählte: Einer Demenz-WG. Anders als im Heim sollte die Gruppe klein sein, nicht mehr als acht Bewohner leben zusammen. Die WG soll Heimat sein - deshalb haben hier die Bewohner und ihre Angehörigen das Sagen, deshalb gibt es auch keinen Stundenplan mit festen Weck- oder Essenszeiten.

Demenz-WG: Alternative zum Pflegeheim: Bewohnerin mit Katze: Auch Tiere sind in der WG willkommen.

Bewohnerin mit Katze: Auch Tiere sind in der WG willkommen.

(Foto: Foto: privat)

Jelka Meyer fand die Idee großartig. Sie meldete ihre demente Schwiegermutter an. Die ersten zwei Monate waren für die alte Frau nicht einfach: Nach mehr als 15 Jahren, in denen sie als Witwe alleine gelebt hatte, musste Margarethe Grunwald sich nun an das WG-Leben gewöhnen. Es nervte sie, wenn andere Musik hörten und viele Besucher in die Wohnung kamen. Aber nach und nach wurde Margarethe Grunwald aufgeweckter, fröhlicher - und ein bisschen dicker. "Es ist aufwärts gegangen mit ihr, auch gesundheitlich", sagt Jelka Meyer. Es hätte keine bessere Lösung gegeben, denkt die Schwiegertochter: "Dieser Platz war ein Lottogewinn."

Tiere sind erlaubt

Meyer mag besonders, dass nur sieben Leute in der WG wohnen und die Umgebung familiär ist: "Das habe ich nirgends sonst gefunden." Jelka Meyer kommt zwei- bis dreimal pro Woche vorbei, um die Schwiegermutter und deren Mitbewohnerinnen zu besuchen.

Die Bewohner bringen beim Einzug ihre Möbel mit und richten ihr Zimmer nach ihrem eigenen Geschmack ein. In vielen hängen Fotos von Kindern und Enkeln an der Wand, auf einem Bett schläft eine Katze. In einem Zimmer sind alle Stoffe mit roten Rosen bedruckt, in einem anderen sitzen Horden von Stofftieren auf den Möbeln. Wer will, darf auch im gemeinsamen Wohnzimmer Bilder aufhängen und die Wände dekorieren.

"Unser Ziel war, den Heimgedanken weitgehend aufzulösen", sagt Brandner. Die Bewohner sollen hier leben können wie zu Hause. Das war am Anfang sogar für die Pflegedienstmitarbeiter schwer zu verstehen: Anders als im Heim sollte es hier keinen festen Rhythmus geben. Wer bis elf im Bett liegen will, darf das.

Demente Menschen sind körperlich häufig noch sehr fit - nur das Gehirn streikt immer wieder. Wenn sie dabei Hilfestellung bekommen, können sie aber noch viel unternehmen. Brandner würde sich deshalb wüschen, dass öfter Ehrenamtliche vorbeischauen, die Lust haben, mit den Bewohnern spazieren zu gehen oder auch nur mal eine Stunde zum gemeinsamen Fernsehgucken in die WG kommen.

Jeder kann, jeder darf, keiner muss

Die Pflegekräfte in der Wohngemeinschaft versuchen, die Demenzkranken soweit wie möglich in den Alltag mit einzubeziehen. Es wird gemeinsam gekocht, Tisch gedeckt, abgetrocknet. Weil Demenzkranke aber oft nicht mehr wissen, wie man Obstsalat zubereitet, wird manches auch unkonventionell gemacht. Macht nix: "Wer bei uns Erdbeeren schälen will, der kann das tun."

Jeder kann, jeder darf, keiner muss. Die Erfahrung in der WG zeigt aber, dass die Bewohner ihre Freiheit nur bedingt ausnutzen: Weil sie gerne in Gemeinschaft essen, sitzen beim Mittagessen und Kaffeetrinken meistens alle am Tisch, ohne Pflicht.

Wie in anderen WGs auch nerven die Mitbewohner aber auch ab und zu. Neulich gab es zum Beispiel handfesten Zoff über die Wahl des Radiosenders. "Das ist Leben", findet Sonja Brandner. Letzten Endes, sagt sie, ist das Besondere an der Demenz-WG, dass nichts besonders ist.

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