Deichkind in München:Urlaub im eigenen Gehirn

Mit Neonfarben beschmierte Bierbäuche, grellbunte Federkleider und immer wieder diese Pyramidenhüte: Die Show von Deichkind im Münchner Zenith ist mehr als nur Einladung zum enthemmten Eskapismus. In ihren besten Momenten lässt die Performance Formen, Farben und Musik miteinander verschmelzen.

Matthias Huber

Pyramidenköpfe und Remmidemmi: Deichkind verändern sich so bald nicht.

Deichkind live: Wie eine Zukunftsvision aus den neonfarbenen 80ern.

(Foto: dpa)

So müssen sich konservative Kulturpessimisten der 80er Jahre die Zukunft vorgestellt haben. Oder wenigstens deren Popmusik. Wie anders hätte denn die Steigerung von Bands wie Poison, die schon damals mit kriminellen Dauerwellenfrisuren und neonfarbenen Leggings die Jugend gefährdeten, aussehen sollen? Noch mehr Neon, noch mehr punkig-rebellische Geschmacksverirrung? Doch irgendwie ist es nie so weit gekommen. Außer auf den Konzerten von Deichkind.

Was Deichkind am Freitagabend auf der Bühne des Münchner Zenith zeigt, ist Urlaub für den Verstand. Nicht unbedingt in dem Sinne, dass er sich ausklinken sollte - auch wenn das bei den immer tanztauglich wummernden Beats durchaus möglich ist. Aber das Konzert entführt den Verstand auf eine Entdeckungsreise durch das eigene Gehirn.

Was irgendwo da vorne auf der Bühne passiert, ist so befremdlich wie spektakulär: Sechs Gestalten wechseln fast für jeden Song ihr Kostüm. Vom Alufolien-Wams in die zerrissene Leggings in ein grellbuntes Federkleid in speckige Ponchos in die Unterhose mit darüberhängendem und mit Neonfarben beschmiertem Bierbauch. Auf dem Kopf mal ein pinker Plastikschwan, mal diese ohnehin längst ikonisch gewordenen Pyramidenhüte. Die Deichkinder hüpfen herum, tanzen aufwändige Choreografien, werfen Konfetti ins Publikum, steigen in absurd einstudierter Umständlichkeit übereinander hinweg und feiern die Klangkatastrophen zwischen und mitten in den einzelnen Songs.

Kopfkino aus Farben und Formen

Doch all dieser Performance-Verhau wird schnell zur Nebensache. Er tritt zurück hinter das Kopfkino, das die Deichkind'sche Reizüberflutung auslöst. Die Bühnenshow der Hamburger Band ist so vollgepackt mit Popkultur-Referenzen, dass es längst keine Rolle mehr spielt, ob diese überhaupt existieren, oder sich in Wahrheit nur im Kopf des Betrachters ergeben. Deichkind lässt den Diskursen und Assoziationen der Farben und Formen freien Lauf.

Vielleicht kennt man die Pyramidenköpfe aus dem Videospiel "Silent Hill". Vielleicht erinnern die zum schlagerhaften "Luftbahn" auf die Bühnendekoration projizierten Köpfe an die Musikvideos von Wolfsheim oder Rammstein. Und wenn einmal ein Bandmitglied aus einer quietschbunten Sonnenbank steigt, so erhebt er sich daraus wie ein Vampir aus seinem Sarg, während der Rest der Truppe mehrstimmig um ihn herum tanzt.

Die Kulisse für all diese Szenarien ist nur Geometrie: Sechs unterschiedlich hohe Rechtecke dienen mal als Leinwand für das gewaltige Youtube-Medley von "Leider geil", rotieren nervös um die eigene Achse oder ordnen sich zu immer neuen Bildern an. Zur Musik von "Illegale Fans", einem Lied über das schwierige Verhältnis zwischen Musikern, Filesharern und der Gema, stehen sie nie ganz still, sondern rücken den Sängern bedrohlich auf die Pelle. Ein anderes Mal überragen sie wie im expressionistischen Kino als groteske Monolithen die Performance der zwergenhaft kleinen Band.

Einstudierte Spontaneität

In seinen besten Momenten ist ein Konzert von Deichkind eine synästhetische Erfahrung, in der Farben, Formen und Klänge miteinander verschmelzen. Immer wieder wird der Show aber zum Verhängnis, dass sie so gefährlich nah am Dada gebaut ist. Der Zugabe - die immerhin etwa ein Drittel des Konzertes ausmacht - merkt man deutlich an, dass die obligatorischen Klassiker der Band nicht mehr mit dem Showkonzept von "Befehl von ganz unten" vereinbar sind.

Stattdessen wird schmerzhaft klar, wie einstudiert all diese zur Schau gestellte Spontaneität wirklich ist. Die Anspielungen und Chiffren der bisherigen Inszenierung weichen karnevalesquer Feierei und alberner Buchstäblichkeit. Für "Remmidemmi" crowdsurfen zwei Bandmitglieder in einem gewaltigen Gummiboot, aus dem sie Federn streuen. Auf der Bühne vergnügen sich derweil die restlichen Akteure rund um eine Hüpfburg. Und für "Roll das Fass rein" fahren sie auf einem übergroßen Bierfass durchs Publikum.

Songs wie "Bon Voyage" oder "Reimemonster" sind zwar willkommene Hiphop-Abwechslung aus den ganz frühen Tagen der Band (beziehungsweise von Ferris MC, der seit 2008 Mitglied ist), doch sie wirken wie Fremdkörper in einer sonst weitgehend durchkomponierten Show. Hier überschreitet Deichkind die Grenze zum ausgelassenen Dadaismus und lässt seine Bandmitglieder in ihren schrillen Klamotten bisweilen wie eine peinlichere Variante der Village People aussehen.

Einladung zum hemmungslosen Eskapismus

Die große Party, die die Fans von einem Deichkind-Konzert erwarten, findet trotzdem statt. Die willkommene Einladung zum hemmungslosen Eskapismus nehmen sie dankend an. "Leider geil": Die Formel, die es Rezensenten viel zu leicht macht, beschreibt perfekt das Gefühl des "guilty pleasure", des etwas peinlichen Vergnügens, als das sich Deichkind selbst inszeniert. Wiederholt man diesen Ausdruck, ist man der Wucht der Performance ohnehin längst unterlegen.

Inzwischen formen die Rechtecke hinter den Protagonisten eine Skyline und verorten die Show mitten in der Großstadt. "Remmidemmi" verstummt, die Bandmitglieder nehmen sich bei der Hand, verbeugen sich theaterhaft. Die Aufführung ist vorbei. Der Vorhang fällt.

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