Debatte um zweite Stammstrecke:Wie die Züricher ihren S-Bahn-Tunnel einfach bauten

DML Abschnitt 3

Die "Durchmesserlinie" führt direkt unter der Zürcher Innenstadt hindurch, verbindet Hauptbahnhof und das Oerlikon-Quartier.

(Foto: Dorothea Müller/SBB)

Schräge Aufzüge, ein eigener Rettungsstollen und Kosten von rund zwei Milliarden Euro: In München wird seit Jahren über eine zweite Stammstrecke gestritten, in Zürich wurde die Röhre einfach gebaut. Eine große Mehrheit der Schweizer votierte sogar dafür.

Von Marco Völklein

Das Programm steht bereits. Und per Flugblatt werben die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) bereits für das große Fest am 14. Juni: Das SBB-Orchester spielt dann auf. Und im Sonderzug, genannt "Tunnel-Turbo", erläutern Fachleute Bau und Funktion der neuen Röhre. Während in München weiter um den zweiten S-Bahn-Tunnel gestritten wird, eröffnen die Züricher genau das: einen zweiten Bahntunnel in der Innenstadt. Ein Besuch auf der Baustelle zeigt, dass an der Limmat einiges anders gelaufen ist als an der Isar.

Die Idee

Der Großraum Zürich boomt - ähnlich wie München. Entsprechend groß sind die Verkehrsprobleme, auch bei der S-Bahn. In den nächsten zehn Jahren rechnen die SBB-Planer mit bis zu 40 Prozent mehr Verkehr. Und das in einer Stadt, die jetzt schon im Stau erstickt. Um mehr Züge fahren lassen zu können, muss ein Nadelöhr entschärft werden: Über die bisherige Stammstrecke von Stadelhofen über den Hauptbahnhof nach Oerlikon laufen zahlreiche Linien. Die SBB-Planer wollten daher ursprünglich auf der Strecke mit zusätzlichen Gleisen die Kapazität erhöhen. Dafür aber hätte die Bahn unter anderem ein 120 Jahre altes Eisenbahn-Viadukt aus Backstein verschandeln müssen - dagegen formierte sich breiter Widerstand.

Die Unterstützung

Eine Volksinitiative forderte eine andere Lösung: einen Tunnel, der im Bogen unter der Innenstadt den Hauptbahnhof mit Oerlikon verbindet, die "Durchmesserlinie". Die SBB-Planer übernahmen die Idee, verfeinerten sie, debattierten die Details mit Bürgern und Politikern - und stellten das Projekt zur Abstimmung. 82 Prozent votierten für die Röhre, einen zusätzlichen, viergleisigen Tiefbahnhof unter dem bestehenden Hauptbahnhof sowie zwei große Brücken im Gleisvorfeld des Hauptbahnhofs. 82 Prozent Zustimmung - ein solcher Wert wäre in München wohl kaum zu erreichen. Nicht so in der Schweiz: "Die Bahn ist für uns eine heilige Kuh", erläutert der SBB-Planer Daniel Boesch. "Die Schweizer lieben ihre Bahn."

Der Bau

Für die Ingenieure war nicht die Errichtung des zweigleisig angelegten, fast fünf Kilometer langen Weinbergtunnels unter der Innenstadt die größte Herausforderung; viel schwieriger war es, den neuen Tiefbahnhof Löwenstraße unter den bestehenden Hauptbahnhof zu betonieren. Dort musste nicht nur der Betrieb auf dem wichtigen Bahnknoten auch während der bis jetzt sechseinhalbjährigen Bauzeit aufrechterhalten werden, vielmehr quert noch ein Fluss, die Sihl, das Areal. Auch unter diesem mussten sich die Ingenieure erst aufwendig durchbuddeln. Und weil der neue Tiefbahnhof leicht seitlich versetzt zu den bestehenden Gleisen an der Oberfläche liegt, befördern nun schräg konstruierte Aufzüge die Fahrgäste.

Debatte um zweite Stammstrecke: Schräg konstruierte Aufzüge führen vom neuen Tiefbahnhof Löwenstraße nach oben zu den Bahnsteigen im Hauptbahnhof.

Schräg konstruierte Aufzüge führen vom neuen Tiefbahnhof Löwenstraße nach oben zu den Bahnsteigen im Hauptbahnhof.

(Foto: Marco Völklein)

Die Baulogistik

In München fürchten viele Anwohner, etwa in Haidhausen oder am Marienhof, über viele Jahre Lärm und Dreck, wenn die Bahn irgendwann mal losbauen sollte. In Zürich versuchten die SBB-Ingenieure die Belastungen für die Bürger zu minimieren, indem sie den Tunnelaushub weitgehend per Zug abtransportierten (ähnliches plant die Deutsche Bahn in München). In Oerlikon wurde zudem eine Materialseilbahn eingesetzt, um schwere Lasten durch die Luft zu transportieren. Dennoch spürt man noch immer insbesondere rund um den Hauptbahnhof und den Halt in Oerlikon die Auswirkungen der Bauarbeiten.

"Alleine für die S-Bahn hätten wir das Projekt nie umgesetzt"

Der Brandschutz

Das ist ein sehr umstrittener Punkt - nicht nur bei den Anhörungen zu den Münchner Plänen, sondern auch in der Schweiz. Eigentlich hatten die SBB-Planer Notausstiege vorgesehen, über die sich die Fahrgäste bei einem Notfall im Tunnel an die Oberfläche retten sollten; ähnliches plant die Deutsche Bahn bei der zweiten Stammstrecke. Doch die Züricher Aufsichtsbehörde verdonnerte die Planer zu einer anderen Lösung: Die SBB musste parallel zum Gleistunnel einen Rettungsstollen graben, der nun über Zugänge (alle 470 Meter) zu erreichen ist. Über den Stollen sollen nicht nur die Menschen ins Freie gelangen; vielmehr ist der Fluchtstollen so dimensioniert, dass auch Feuerwehrautos hineinpassen und zur Unglücksstelle fahren können.

Die Kosten

Ursprünglich hatten die SBB-Planer mit Kosten von 1,8 Milliarden Franken kalkuliert. Vor allem wegen des nachträglich verordneten Flucht- und Rettungsstollens hätten sich die Kosten nun aber auf 2,031 Milliarden Franken (umgerechnet etwa 1,7 Milliarden Euro) gesteigert, sagt SBB-Planer Paul Altweg. Zum Vergleich: Die Kosten für den sieben Kilometer langen Tunnel und die geplanten drei neuen Stationen in München liegen derzeit bei 2,6 Milliarden Euro.

Bislang allerdings ist unklar, welche Sicherheits- und sonstigen Auflagen die Genehmigungsbehörde machen wird. Interessant ist noch ein weiterer Punkt: In der Schweiz teilen sich, ähnlich wie in Deutschland, der Bund und das Land die Kosten. Weil aber der Bund vor einigen Jahren äußerst klamm war, entschied sich der Kanton Zürich zur Vorfinanzierung des Bundes-Anteils - andernfalls wäre die Durchmesserlinie wohl nie gekommen. Den Vorschuss muss die Regierung in Bern nun nach und nach abstottern.

Das Konzept

Mit der Eröffnung im Juni nutzen zunächst einmal nur S-Bahnen den neuen Tunnel; auf lange Sicht will die SBB das Nahverkehrsangebot im Großraum um 40 Prozent ausbauen, sagt Boesch. Vom Jahr 2015 an sollen zudem noch Fernzüge durch die Röhre rauschen - Zürich ist im Schweizer Schienensystem einer der wichtigsten Knotenpunkte. "Alleine für die S-Bahn hätten wir das Projekt nie umgesetzt", sagt der SBB-Planer.

Ähnliches sehen auch die Münchner vor: So sollen künftig nicht nur S-Bahnen, sondern auch Regionalzüge beispielsweise von Augsburg durch den zweiten Tunnel zum Flughafen rollen. Allerdings müssten wegen der unterschiedlichen Bahnsteighöhen völlig neue Züge entwickelt werden, räumen selbst Bahn-Vertreter ein. Bislang gibt es solche Züge nicht. In der Schweiz dagegen stellt sich dieses Problem nicht.

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