Verkehr:Der Mittlere Ring liegt wie ein Würgehalsband um die Innenstadt

Verkehr: Wie viele Stunden verbringt man in München täglich im Stau?

Wie viele Stunden verbringt man in München täglich im Stau?

(Foto: Catherina Hess / Bearbeitung: SZ)

Viele Münchner Autofahrer verbringen einen Großteil ihrer Freizeit im Stau. Warum tun wir uns das an? Und warum lässt die Stadt es zu?

Von Karl Forster

Es sind 15 Millionen Eintragungen, die bei Google zum Suchwort "Stau" auftauchen. Das ist gar nicht so viel, im Vergleich zu "Sex" zum Beispiel, da sind es drei Milliarden und 260 Millionen. Trotzdem hat man ganz besonders in München sehr viel öfter Stau als Sex. Und zwar altersunabhängig.

Anfang dieser Woche kam auf Bayern 5 am frühen Abend bei den Verkehrsmeldungen, wie so oft, ganz am Schluss der gefürchtete Zusatz "Und nun zu München": Der Mittlere Ring sei im gesamten Nordbereich dicht. Stau gebe es aber auch auf der A 995 von Taufkirchen Richtung Giesing. Für Ortsfremde: Das ist die etwas verschlüsselte Version dafür, dass im Südbereich nichts mehr geht, zumindest bis Höhe Brudermühlbrücke. Egal also, ob man über die Landshuter Allee zur Lindauer Autobahn will, durch den Richard-Strauss-Tunnel nach Nordschwabing oder von der Chiemgaustraße zur Garmischer Autobahn - nichts geht mehr.

Wer also so gegen halb sieben Uhr abends wo auch immer auf dem Mittleren Ring steht, hat viel Zeit, über dessen Sinn und Zweck nachzudenken. Und darüber, ob der Münchner Dauerstau dieser Woche nicht auch ein Menetekel ist für jene noch auf uns zukommende Zeit, in der der motorisierte Individualverkehr zentraler Bestandteil der Verkehrs- und damit unserer Lebensplanung ist. Und das hat nun wirklich gar nichts mit Sex zu tun.

Schon 1927 dachte man in einem "Generalbaulinienplan Großmünchen" über einen Straßenring zur Verkehrsentlastung der Stadt nach. 1952 war die Brudermühlbrücke wieder hochgezogen worden, ein Jahr später eröffneten Politiker die Richard-Strauss-Straße, unter der heute im Tunnel die Autos Richtung Kennedybrücke kriechen. Zu Olympia 1972 war der Mittlere Ring dann erstmals geschlossen fertig. Und heute, nach diversen Aus-, Verbreiterungs- und Tunnelbauten, liegt er wie ein Würgehalsband um die Innenstadt und schnürt deren Lebensadernstraßen zu. Denn wenn der Ring dicht ist, gibt es auf den Straßen innerhalb kaum noch ein Schlupfloch nach außen. Es staut sich dann überall stadtauswärts, sei es auf der Dachauer Straße, der Prinzregenten-, der Arnulfstraße und vielen anderen.

Die bislang letzte Erhebung darüber, welche Verkehrsmittel die Münchner nutzten, stammt aus dem Jahr 2011. Das Auto lag mit 33 Prozent klar vorne. Busse und Bahnen kamen auf 23 Prozent, das Radl auf 17, und 27 Prozent gaben an, zu Fuß zu gehen. Nur erreichen inzwischen immer weniger ihren Arbeitsplatz per pedes: Etwa eine halbe Million Menschen mussten 2014 täglich aus München ein- oder auspendeln, um ihren Job zu tun. Das sind 100 000 mehr als 2004. Ein Großteil von ihnen trifft sich täglich irgendwo zwischen Schenkendorf- und Heckenstallerstraße.

Früher wurde im Stau noch geflirtet

Früher war der große Stau ein Phänomen, das dem Ferienbeginn und den Autobahnen vorbehalten war. Man las von Menschen aus dem Norden, die dann auf der Salzburger Autobahn Würstl grillten, und von mancher Freundschaft, die auf heißem Asphalt besiegelt wurde: "Wir sehen uns wieder, nächstes Jahr, same time, same station."

Auch innerhalb der Großstadt gab es schon automobilistischen Stillstand, aber nicht in diesem Ausmaß und in dieser Regelmäßigkeit. Und auch nicht mit Endlosfrust und -ärger wie heute, da es, warum auch immer, oft an normalen Dienstagen zu stadtweitem Stillstand kommt. Das waren Zeiten, in denen man, von Gestautem zu Gestauter, Blickkontakt suchte und fand, vielleicht sogar das Fenster runterkurbelte und ein Schwätzchen startete, bis dass die Ampel einen trennte.

31 Minuten

So viel länger brauchen Münchner Autofahrer zur Hauptverkehrszeit für eine Strecke, die sie ohne Stau in einer Stunde zurücklegen könnten. Außerhalb der Stoßzeiten kosten die Staus immer noch 17 Minuten mehr Zeit. Die Zahlen hat der Navigationsgeräte-Hersteller Tomtom für das Jahr 2015 für München errechnet.

Heute gibt es kaum noch Mitleidende am Volant, die zu einem kleinen Flirt aufgelegt wären. Jeder scheint sich in einer Art autistischen Verzweiflungszustand dem Stauschicksal zu ergeben. Und manch einer mag dabei darüber nachdenken, ob es sinnvoll ist, die Staustatistik der 22 größten deutschen Städte pro Jahr auf 38 Stunden hochzutreiben, was - volkswirtschaftlich betrachtet - jeden Haushalt mit etwa 500 Euro belastet.

Wie könnte der staufreie Verkehr der Zukunft aussehen?

So jedenfalls eine Schätzung durch das Centre for Economics and Business Research in London von 2015. Es errechnete für Stau-Charts-Führer wie Stuttgart oder München gar Belastungen von bis zu 1000 Euro pro Haushalt. In dem Buch "Deutschland im Stau" schreiben die Autoren Günter Ederer und Gottfried Ilgmann, der Stau auf deutschen Straßen erstrecke sich heutzutage auf mehr als 830 000 Kilometer im Jahr. Dabei werde durch stehende Autos Sprit im Wert von 14 Milliarden Euro verbrannt.

Auch andere Verkehrs- und Stauforscher haben interessante Erkenntnisse zu bieten: Meist haben kleine Störungen, ein schlecht geparkter Lkw, ein kurzes, oft unnötiges Bremsmanöver und auch nur eine kurze Fahrbahnverengung durch eine Baustelle fatale Staufolgen, weil die Stauwellen ja stromaufwärts, also entgegen der Fahrtrichtung wandern und immer dramatischer werden. Denn im Stau stehen die Autos Stoßstange an Stoßstange, sie müssen warten, bis wieder ein Sicherheitsabstand von etwa zwei Sekunden zum Vordermann entsteht.

Dazu eine positive Erkenntnis: Je gleichmäßiger der Verkehr fließt, desto geringer ist die Staugefahr. Das haben die Forscher von den Ameisen gelernt, die auf ihren Straßen durch perfekte Kommunikation und durch gesellschaftsdienliches Verhalten den perfekten Verkehrsfluss organisieren. Verkehrsforscher Michael Schreckenberg, einer der prominentesten deutschen Stauforscher von der Uni Duisburg/Essen, sagt: Bis zu 20 Prozent der Staus entstehen, weil der Mensch sich falsch verhält, zum Beispiel durch ständigen Fahrbahnwechsel.

Könnte aber der Fehler nicht auch woanders liegen? Könnte es sein, dass der Denkansatz der Verkehrspolitiker immer noch heißt: Wir planen für den Verkehr und nicht dafür, ihn anders zu gestalten oder ihn gar überflüssig zu machen. Negativbeispiel: Luise-Kiesselbach-Platz. Die neuen Tunnels und die neue Verkehrsführung (Kosten: etwa 400 Millionen Euro) saugen so viel Verkehr an, dass sich die Stausituation eher verschlechtert hat. Was haben sich Münchens Verkehrsplaner dabei gedacht? Konnten sie nicht errechnen, dass sich dort durch die schnellere Verkehrsführung der Flaschenhals nur nach Osten verschiebt? Dort trifft die zweispurige Einfahrt von der Chiemgaustraße auf den zweispurigen Ring, nur um sich binnen weniger Hundert Meter von vier auf dann wieder zwei Spuren vor der Unterführung unter der Grünwalder Straße zu verengen. Eine solche Staufalle zu bedenken und zu verhindern, wäre eigentlich das kleine Einmaleins der Straßenarchitektur.

Skytran oder Tausendfüßler-Zug?

Es lohnt sich, man hat ja Zeit im Stau, vielleicht ein Blick auf kühnere Vorhaben, auf Mobilitätskonzepte für die nahe Zukunft. Da wäre das Projekt "Sichere Intelligente Mobilität - Testfeld Deutschland", bei dem mit speziellen Sensoren ausgestattete Fahrzeuge über einen zentralen Rechner Stauwarnungen in Echtzeit ermöglichen. Für die noch fernere Zukunft gedacht ist das sich selbst steuernde Stadtmobil EN-V (Electro Networked Vehicle) von General Motors und Segway. Es kommt auf Befehl durchs Smartphone angerollt und bringt bis zu zwei Fahrgäste an den gewünschten Ort.

In den Niederlanden arbeitet man an einem fliegenden Auto mit Hubschrauberrotor. "Personal Air and Land Vehicle" heißt das Gerät, das es schon gibt, aber leider mit 500 000 Euro etwas teuer geraten ist. In Tel Aviv baut man an einem Skytran. Dabei sollen zweisitzige Kabinen auf einem Schienensystem mit bis zu 70 Stundenkilometern durch die Stadt sausen. Und ein Berliner Forscherteam hat darüber nachgedacht, ob nicht diese Idee realisierbar wäre: Ein Pendler steigt in seiner Parkgarage in eine Fahrgastzelle und rollt damit auf die Straße. Dort wird die Kabine Teil eines riesigen Zuges aus vielen solchen Zellen, der wie ein Tausendfüßler durch die Stadt gleitet. Nahe dem Ziel schert die Kabine aus und rollt zur angegebenen Adresse.

So etwas wäre schon sehr, sehr sexy.

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