Jahresrückblick:Wie die Münchner für Erstaunen in der Welt sorgten

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Viele Bürger engagieren sich 2015 eindrucksvoll für Flüchtlinge und gegen rechts. Wie tragfähig dieser Zusammenhalt ist, muss sich im nächsten Jahr zeigen.

Von Nina Bovensiepen

Auch dieser Eklat passte letztlich in das München-Bild dieses Jahres. In der letzten Stadtratssitzung passierte es. In der traditionellen Weihnachtsrede, die vom ältesten Mitglied des Gremiums gehalten wird, sagte CSU-Mann Reinhold Babor, in München sei nun aber die Obergrenze für Flüchtlinge erreicht. Der große Teil des Stadtrats tat daraufhin, was viele Münchner 2015 immer wieder gemacht haben: Er zeigte Haltung. Die meisten Stadträte erhoben sich und verließen den Saal.

Sie setzten an diesem 16. Dezember noch einmal ein Zeichen dafür, welche Stimmung in München beim Thema Flüchtlinge überwiegt. Gemeinsam aufstehen, ein Zeichen setzen - das ist in München im vergangenen Jahr vielfach passiert. Etwa, um Pegida in die Schranken zu weisen. Oder wenn es darum ging, sich in der Flüchtlingsfrage zu positionieren.

Oft vermischte sich beides. Etwa am 9. November, dem 77. Jahrestag der Pogromnacht, der in diesem Jahr ausgerechnet auf einen Montag fiel, den "Pegida-Tag". Die Stadt war damit gescheitert, einen Aufmarsch der Rechtspopulisten juristisch zu verhindern. Doch umso eindrucksvoller taten dies viele Münchner. Bevor sich gerade mal 100 Pegidisten an der Münchner Freiheit zusammenfanden, versammelten sich mehr als 2500 Menschen vor der Feldherrnhalle am Odeonsplatz. Ein Plakat ragte vor der Rednerbühne in die Höhe, "Geflüchteten die Hände reichen" stand darauf.

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Die Stadt wollte die Pegida-Demo verbieten, die Gerichte hielten die Versammlung für zulässig: 100 Pegida-Anhänger sind am Montagabend aufmarschiert - und 3000 Münchner protestierten dagegen.

Entschlossene Zeichen gegen Pegida

Dieses entschlossene Eintreten vieler Münchner gegen Rechtspopulismus und Fremdenfeindlichkeit zieht sich wie ein roter Faden durch das Münchner Jahr 2015, beginnend am 12. Januar, als 20 000 Menschen am Sendlinger Tor gegen Pegida demonstrierten, und am 2. Februar mit einer Lichterkette quer durch die Altstadt.

Als unvergesslich wird vielen Münchnern das Wochenende vom 5. und 6. September in Erinnerung bleiben. Jenes Wochenende, an dem am Hauptbahnhof erstmals Tausende von Flüchtlingen ankamen und die Bürger der Stadt ihnen einen herzenswarmen Empfang bereiteten. Nicht umsonst gingen die Bilder von den klatschenden Münchnern um die Welt.

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Das Besondere war ja, dass dieser Empfang von niemandem organisiert war, anders als etwa die Pegida-Gegendemonstrationen. Spontan kamen die Menschen zum Hauptbahnhof. An einem Sommerferien-Wochenende, an dem viele Münchner gar nicht in der Stadt waren und mitunter erstaunt von griechischen Inseln oder spanischen Stränden via Tablet oder TV verfolgten, was sich daheim abspielte.

Wie der Starnberger Flügelbahnhof zur Kulisse einer neuen Willkommenskultur wurde. Zelebriert von Münchnern aus allen Schichten und Altersklassen. Manche waren vor allem als Schaulustige eines historischen Ereignisses gekommen, die meisten aber zugleich als Helfer für die Menschen auf der Flucht. Die einen brachten zehn Tafeln Schokolade, weil zu dieser Zeit noch nicht jeder darüber nachdachte, dass Bananen oder Müsliriegel der bekömmlichere Willkommensgruß sein könnten. Ladeninhaber und Hoteliers karrten Wasser herbei. Andere schenkten Kleidung.

Das Bewegendste an diesen Tagen war aber nicht das Gefühl des Zusammenhalts auf der "Münchner" Seite der Absperrung im Bahnhof. Es waren die Blicke aus den Augen der Ankommenden auf der anderen Seite der Absperrung. Kinder, Männer, Frauen, die nach einer langen Flucht zuletzt auch noch in Europa, in Ungarn, erlebt hatten, wie unwillkommen sie waren. Und denen nun zum ersten Mal eine andere Stimmung entgegenschlug. Manche nahmen das erstaunt, andere leicht skeptisch, wieder andere offen freudig zur Kenntnis.

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Es gab in München 2015 natürlich aber auch andere Bilder und Töne. So schwang Oberbürgermeister Dieter Reiter sich zeitweise zum obersten Flüchtlingshelfer auf, während Ministerpräsident Horst Seehofer immer wieder vor dem zu groß werdenden Zustrom warnte. Als Münchner Helferkreise mitunter sogar Hilfe ablehnen mussten und Notunterkünfte leer blieben, waren zugleich die Nachrichten voll von Bildern aus bayerischen Grenzregionen, die vom Chaos überwältigt zu werden drohten.

Frustrierte Helfer in der Stadt, erschöpfte Landräte im Umland, die sich von Bundes- und Landesregierung, von Behörden und Bürokratie überfordert und allein gelassen fühlten. Und auch im Stadtrat ist das Bild der gemeinsam empörten Politiker vom 16. Dezember um ein anderes zu ergänzen: Der Rechtsextreme Karl Richter applaudierte zu Babors Worten.

Sind die Flüchtlinge auch 2016 willkommen?

Das Flüchtlingsthema ist dasjenige, das in diesen Monaten am meisten interessiert und polarisiert - das ist im Stadtrat ebenso zu bemerken wie in der U-Bahn oder beim Friseurbesuch. Die das Land überlagernde Schaffen-wir-das-Debatte, die neben Willkommensgrüßen auch schon an Münchens historischem Septemberwochenende am Hauptbahnhof geführt wurde, eint und spaltet zugleich.

In München hat sie für bemerkenswert viel Zusammenhalt gesorgt. Wie lange das trägt? Das wird sich 2016 zeigen, wenn es um die Fortsetzung der Willkommenskultur geht. Nicht am Hauptbahnhof. Sondern in Schulen und Krippen, Firmen und Behörden. Und in der unmittelbaren Nachbarschaft von sehr vielen Münchnern.

© SZ vom 28.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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