Literatur:Eintauchen im Sehnsuchtsraum

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Im "Meerbuch" schreibt Nooteboom an Poseidon, geht Sindbad auf Reisen und schwärmt Platon von Atlantis. Dazu leuchten die Bilder des Künstlers Quint Buchholz.

Von Barbara Hordych

Zum antiken Meeres-Gott Poseidon führte den viel gereisten niederländischen Schriftsteller Cees Nooteboom ein Zufall: "Ich ging im vergangenen Jahr über den Viktualienmarkt in München, es war Februar, die Sonne schien, ich dachte, warum nicht?, und ich bestellte auf einer Terrasse ein Glas Champagner für mich. In der Zwischenzeit dachte ich über das Schreiben dieser Texte nach. Berichte. Doch an wen? Da schaute ich auf und sah auf der Fassade den Namen des Restaurants. Poseidon. Solches wird einem dann in den Schoß geworfen, ein Geschenk der Wirklichkeit." So erzählte es Nooteboom anlässlich seines 2012 erschienenen Bands "Briefe an Poseidon", in dem ein Zusammentreffen in der bayerischen Landeshauptstadt scheinbar aus heiterem Himmel zum Anlass eines Buchs wurde.

"Niemand spricht mehr von euch, das mag bitter sein. Es scheint, als hättet ihr euch spurlos aufgelöst" stellt Nooteboom in seinem Brief "Poseidon II" fest, in dem er das Verhältnis zwischen Mensch und antikem Gott beleuchtet. Beobachtet der Herrscher der Meere unser Handeln und Treiben überhaupt noch? Seltsam schwebend liest sich das, denn "was ist geheimnisvoller, jemand, der sterben kann, oder jemand, der nie sterben darf?". Und überhaupt: Was denkt ihr eigentlich über uns?. Eine Frage, die unbeantwortet bleiben muss. Oder jeder sich nur selbst beantworten kann. "Heute am Meer gewesen, bei stürmischem Wind. Lange auf einem Felsen gesessen, auf die Wellen geschaut, grau und wild. Keine Antwort, natürlich nicht. Früher habt ihr euch zuweilen als Menschen verkleidet, um uns etwas zu sagen. Manchmal denke ich, daß es noch immer so ist, daß ich einem von euch begegnet bin. Aber sicher bin ich mir nie", beendet Nooteboom seinen Brief.

Für dieses maritim- literarische Ausflugsbuch hat der Ottobrunner Künstler Quint Buchholz eigene, in fotorealistischem Stil gemalte Illustrationen geschaffen. (Foto: Quint Buchholz/Insel Verlag 2020)

Der vor allem für seine Romane und Reisebücher bekannte Autor lebt abwechselnd in den Niederlanden und auf Menorca. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass Wasser ein wichtiges Thema für ihn ist. Ganz ähnlich mag es Matthias Reiner empfunden haben, der die bibliophile Reihe der Insel-Bücherei betreut. Dort kam im vergangenen Jahr "Das Meerbuch" heraus, in dem sich ausgewählte Texte wie der Brief "Poseidon II" von Nooteboom finden. Aber auch zahlreiche andere Geschichten und Gedichte, die vom Meer handeln, das am Anfang für den Menschen eine unüberschreitbare Grenze darstellte. Überfahrten waren lebensgefährlich, man denke nur an Homers Odysseus, der nach vielen Irrfahrten zurückkehrte nach Ithaka zu Penelope. Von der "Todesstille fürchterlich!" weiß auch der Schiffer in Goethes Gedicht "Meeres Stille". Andererseits wurden Platons sagenhafte Insel Atlantis oder Thomas Morus' Utopia zu sprichwörtlichen Verheißungen des unbekannten und wunderbaren Landes jenseits des großen Wassers. Mit der modernen Schifffahrt schließlich wurde die Entdeckung unbekannter Länder möglich - sie versprach lukrativen Handel, touristischen Wandel und wurde zum Hauptweg weltweiter Migration. Und dennoch - das Geheimnis bleibt: Ein Gedicht wie das von Rose Ausländer, in der das lyrische Ich "Auf einer Insel" liegt, die keinen Namen hat in einem namenlosen Meer, beschwört den Zauber des Unaussprechlichen: "Fische besuchen mich/ und sprechen Gedichte / Ich bemühe mich/ sie zu erlernen/Ein Delphin bringt mir/ Grüße von Freunden/ Sie laden mich ein/ allein ich kann nicht schwimmen.". Die Auszüge aus den längeren Prosatexten machen Lust auf mehr: Warum die Bekanntschaft mit Sindbad dem Seefahrer, mit Judith Schalanskys Atlas der abgelegenen Inseln, Daniels Defoes Robinson und Freitag oder Lutz Seilers Kruso nicht fortsetzen?

Der in Ottobrunn lebende Künstler Quint Buchholz hat für dieses maritim- literarische Ausflugsbuch eigene, in fotorealistischem Stil gemalte Illustrationen geschaffen. Die ganz- und doppelseitigen Bilder lassen vor den Augen der Betrachter abgründige Meeres-Welten in vielerlei Blautönen entstehen. Bei der Lektüre wird jede Leserin und jeder Leser sicherlich einen eigenen Lieblingstext finden, der sie oder ihn dazu verleitet, träumend in die Fantasien vom Meer einzutauchen. Vielleicht sind sie ja auch Realität? "Natürlich weiß ich, dass ich Briefe an niemanden geschrieben habe. Doch was ist, wenn ich morgen auf den Felsen einen Dreizack finde?" sagt Nooteboom.

Das Meerbuch , ausgewählt von Matthias Reiner, illustriert von Quint Buchholz, Insel Verlag 2020

© SZ vom 14.04.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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