Das Leben als angehender Anästhesist:Gefangen in der Tretmühle

Er isst ungesund, schläft nicht genug und treibt zu wenig Sport - dabei ist Thomas Neumann Arzt. Für den 32-jährigen angehenden Anästhesisten im Schwabinger Krankenhaus sind 40 Stunden Arbeit an einem Wochenende normal.

Stephan Handel

Er schläft zu wenig, zu unregelmäßig und zu den falschen Zeiten. Er ernährt sich falsch und isst zu viel ungesundes Zeug. Er arbeitet 50 bis 60 Stunden die Woche. Er treibt kaum noch Sport, und einige seiner Freunde sind schon sauer, weil er nie Zeit hat. Er weiß, wie man gesund lebt. Er ist Arzt.

Arzt Thomas Neumann im Einsatz

Helfer in Not: Münchner Sanitäter sollen keine Infusionen mehr geben dürfen.

(Foto: Robert Haas)

Thomas Neumann kommt fast direkt von der Nachtschicht zum Gespräch in ein Schwabinger Café. Müde ist er, das schon, gerade hat er zu Hause schnell noch eine Gulaschsuppe gegessen. Er hat kein Auge zugetan die ganze Nacht, denn es gibt genug zu tun, auch nachts.

Neumann ist 32 Jahre alt und seit vier Jahren in der Ausbildung zum Facharzt am Schwabinger Krankenhaus. Außerdem ist er dort der Streikleiter des Marburger Bundes, der Gewerkschaft der angestellten Ärzte. "Es muss sich jetzt was ändern", sagt er, und wahrscheinlich würde er wütend klingen, wenn er ein Mensch wäre, der wütend wird.

"Wir sind nur noch Dienstleister"

Fünf Prozent mehr Gehalt wollen die Ärzte erstreiken und eine bessere Bezahlung von Nacht- und Bereitschaftsdiensten. Wer jedoch in diesen Tagen mit Krankenhaus-Medizinern spricht, der bekommt schnell gesagt, dass es um das Geld doch gar nicht gehe - jedenfalls nicht in dem Sinn, dass sie teurer zum Essen gehen können oder das neue Saab Cabrio vier Monate früher vor der Tür steht: Es geht ihnen um das Gefühl, in ihrer Arbeit nicht geschätzt zu werden. "Wir sind nur noch Dienstleister", sagt Thomas Neumann, und dann sagt er noch, so habe er, Sohn einer Arztfamilie, sich das nicht vorgestellt, als er das Studium begonnen habe vor elf Jahren.

Ein typisches Wochenende eines jungen Arztes in der Klinik bedeutet: Mehr als 40 Stunden Arbeit von Freitagmorgen bis Montagmorgen. Thomas Neumann würde also um 7.30 Uhr zur normalen Tagschicht erscheinen und sich als Erstes vom Nachtschichtler erzählen lassen, wie die Lage ist. Sein Arbeitsplatz ist die anästheologische Intensivstation, die Patienten dort ringen allesamt mit dem Tod, 70 Prozent von ihnen müssen künstlich beatmet werden: Schädel-Hirn-Trauma, unfallchirurgisch Versorgte.

Eine Dreiviertelstunde dauert die Übergabe, dann beginnt die morgendliche Untersuchung aller Patienten: Neurologie, Nieren, Magen-Darm-Trakt - die meisten der Kranken kann Neumann nicht fragen, wie es ihnen heute geht; er muss aus der Untersuchung und seinem medizinischen Wissen die richtigen Schlüsse ziehen. Eineinhalb Stunden braucht er für gewöhnlich dazu.

Der nächste Tagesordnungspunkt ist ein organisatorischer: Welcher Patient braucht heute welche Therapie? Neumann telefoniert mit den Kollegen in der Radiologie, in der Angiologie, verhandelt Termine im Computertomographen und im Magnetresonanztomographen. Dabei muss er berücksichtigen, dass die Untersuchungen zwischen 60 Minuten und vier Stunden dauern können, dass die Patienten gebracht und geholt werden müssen. 30 Minuten rechnet er dafür ein.

"Schokolade ist heiß begehrt"

Ebenso lange braucht er für die nun folgende Laborphase: Den Kranken wird Blut abgenommen, das zum Beispiel auf den Sauerstoffgehalt untersucht wird, um zu sehen, ob die Beatmung richtig eingestellt ist. Auch Änderungen in der Medikation richten sich nach den im Labor ermittelten Werten.

Jetzt geht es schon auf Mittag zu, aber eine Pause wird es, wie an den meisten Tagen, nicht geben. Zwei Assistenzärzte und ein Oberarzt arbeiten in einer Schicht, und alle drei sind gut beschäftigt. Außerdem: Sich mittags einen fetten Schweinsbraten hinunterzuschieben, das würde ihn träge und müde machen. "Schokolade ist im Krankenhaus heiß begehrt", sagt Neumann, schmeckt gut, spendet schnell - wenn auch nur kurzfristig - Energie und: "Macht glücklich." Natürlich weiß er, dass diese Ernährungsweise nicht gesund ist, aber: "Was soll ich machen."

Der Rest des Tages vergeht mit Büroarbeit, Routine und Akut-Eingriffen. Von 14 bis 15 Uhr stehen die Ärzte für Angehörigen-Gespräche zur Verfügung - für Thomas Neumann eine zweischneidige Angelegenheit: Zum einen hat er für jedes dieser Gespräche zehn Minuten zur Verfügung, oft zu wenig, um Menschen, die um das Leben eines nahen Verwandten bangen, Trost und Zuversicht zu spenden. Zum anderen ist das oft der einzige Zeitpunkt, an dem der Arzt so etwas wie Dankbarkeit spürt. Ansonsten gilt in der Klinik oft das österreichische Sprichwort "Nicht geschimpft ist gelobt genug".

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wie der Arbeitsmarathon für Thomas Neumann nach seinem Stationsdienst weitergeht.

Vier Stunden frei

Um 16 Uhr endet Neumanns Dienst auf der Station, nicht jedoch sein Arbeitstag. Er hat jetzt vier Stunden frei, die er nutzt, um nach Hause zu gehen - glücklicherweise wohnt er nicht weit von der Klinik - zum Duschen und Essen und um sich Lernmaterial einzupacken.

Um 20 Uhr wird aus dem angehenden Anästhesisten Thomas Neumann der Notarzt Thomas Neumann. 24 Stunden lang wird er zusammen mit zwei Rettungsassistenten der Berufsfeuerwehr auf einen Alarm warten, dann in den Notarztwagen hechten, um irgendwo in München einem Menschen das Leben zu retten: Herzinfarkte, Diabetespatienten, Unfallopfer.

"Wer sich hinlegt, steht umso schwerer wieder auf"

Erst gestern hatten sie einen Mann, der auf der Straße einfach umgefallen war. "Der war asystolisch", sagt Neumann, was so viel heißt wie: kein Herzschlag, kein Zucken des Herzens mehr tastbar, also "praktisch tot". Sie haben ihn zurückgeholt ins Leben, nun liegt er in der Klinik, wo andere Ärzte versuchen, ihn zu stabilisieren.

Zehn bis zwölf Einsätze durchschnittlich fährt das Team in 24 Stunden, sodass an Schlaf kaum zu denken ist. Außerdem: "Wer sich hinlegt, steht umso schwerer wieder auf." Also beschäftigt sich Neumann mit seinen Büchern, denn auch das missfällt ihm an der täglichen Klinik-Routine: "Da passiert kaum etwas, was mich fachlich weiterbringt."

Wenn denn wenigstens Aussicht auf Besserung bestünde - aber auch fertig ausgebildete Fachärzte müssen weiterhin sehr viel arbeiten, sogar die Oberärzte haben keine Gelegenheit, es mal ruhiger angehen zu lassen. 5000 Arztstellen fehlen bundesweit, hat der Marburger Bund ausgerechnet und deren Besetzung auch zu einem Thema der Tarifverhandlungen gemacht.

Montag früh ist endlich Feierabend

Angst davor, vor Müdigkeit mal einen Fehler zu machen, hat Thomas Neumann dennoch nicht: Bei den Notarzt-Einsätzen sehen ihm die Sanitäter über die Schulter, die haben auch Erfahrung. "Und auf der Station sind wir so geschult, dass wir bei Zweifeln sofort Hilfe holen."

Samstagabend um 20 Uhr hat Neumann endlich Feierabend und "ehrlich gesagt, die Schnauze voll". Nun kann er endlich schlafen und am Sonntag tagsüber erledigen, was in seinem Single-Haushalt die Woche über liegengeblieben ist.

Der nächste Dienst beginnt erst - nein, nicht am Montag früh, sondern am Sonntagabend: Um 22 Uhr tritt Neumann wieder auf der Station an, zu einer Vollschicht. Das heißt: Nicht wie bei einem Bereitschaftsdienst geht die Klinikleitung davon aus, dass mindestens 50 Prozent der Zeit geruht werden kann (obwohl auch das illusorisch ist, wie Neumann sagt), sondern der Arzt hat wirklich acht Stunden zu arbeiten, nur eben nachts. Weil mit den Patienten nun aber nicht so viel zu tun ist, setzt sich Neumann wieder am Computer und schreibt Arztbriefe, wenn nicht gerade ein Notfall hereinkommt.

Montag früh dann endlich Feierabend. Thomas Neumann hat von 60 Stunden seit Freitagmorgen mehr als 40 gearbeitet. Auf seiner Homepage schreibt das Klinikum Schwabing: "Abgesehen von aller erforderlichen Technik legen wir sehr großen Wert auf die menschliche Zuwendung unserer Ärzte und Pfleger zu den Patienten und ihren Angehörigen."

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