Süddeutsche Zeitung

Darmkrebs:Wie Tumorpatienten ihre Heilungschancen steigern

Mehr als 60 000 Menschen erkranken in Deutschland jährlich neu an Darmkrebs. Neue Immuntherapien helfen dem Körper, die Krebszellen selbst zu bekämpfen. Künstliche Intelligenz unterstützt Ärzte, verdächtige Stellen aufzuspüren.

Von Nicole Graner

Die Stimme des 37-Jährigen klingt wach, lebensfroh. Immer wieder nennt er im Gespräch ein Wort, das für ihn eine sehr große Bedeutung hat: dankbar. "Ich bin dankbar, dass ich leben darf", sagt er und erzählt, warum er es ist. Im Februar 2022 erhält er die Diagnose Darmkrebs. Im fortgeschrittenen Stadium. Mehr als 60 000 Menschen erkranken jährlich in Deutschland neu an Darmkrebs. Und plötzlich ist er einer von ihnen.

Ein acht Zentimeter großer Tumor. Der Tastbefund ist eindeutig, und der Arzt reagiert sofort. Magnetresonanztomographie (MRT) und Computertomographie (CT) folgen. Die ersten Termine in der Onkologischen Tagesklinik im LMU Klinikum Großhadern werden ausgemacht. Schon da weiß der 37-Jährige, dass es nicht gut um ihn steht. In ein tiefes "Trauertal" sei er gefallen. Und dann die Kinder. So ruhig, wie es eben geht, erzählen seine Frau und er den beiden Jungen, dass dem "Papa wohl die Haare ausfallen" werden und dass harte Monate auf die Familie zukommen.

Doch dann bringen eine Darmspiegelung und die damit verbundene Gewebeentnahme unerwartet Hoffnung. Der 37-Jährige hat eine Mikrosatelliteninstabilität (MSI). Zellen können sogenannte Mismatch-Mutationen in der DNA nicht reparieren. Menschen mit einer MSI erkranken daher leichter an Krebs. Was aber ist daran gut? Das Zauberwort heißt Immuntherapie, die aktuell als eine der Innovationen in der Krebsforschung gilt. Denn immer mehr Erfolge werden damit erzielt, das körpereigene Immunsystem durch bestimmte Medikationen so zu stärken, dass es Tumore besiegen kann.

Im Falle eines Dickdarm-Karzinoms und im Falle von MSI, erklärt Volker Heinemann, Direktor des Comprehensive Cancer Center am LMU Klinikum, könnten mit Hilfe von sogenannten Checkpoint-Inhibitoren gerade solche Krebszellen erreicht und sichtbar gemacht werden, die das Immunsystem bis dahin nicht erkannt hat. "Die Checkpoint-Inhibitoren helfen quasi, den Tumorzellen ihre Maske vom Gesicht herunterzureißen, damit das Immunsystem sie erkennen und dann bekämpfen kann." Das sei ein "medizinisches Wunder", sagt der Direktor.

Und er verweist auf Studien aus dem Jahr 2022, die belegten, dass Patienten mit MSI und nicht metastasierten Tumoren tatsächlich nach einem sehr kurzem Therapiezeitraum keinen Tumorbefund mehr gehabt hätten. "Das ist extrem effektiv", sagt Heinemann. Auffällig dabei: Viele jüngere Patienten haben eine MSI. Sie könne erbbedingt sein. Deshalb empfiehlt der Direktor den Menschen, in deren Familien Tumorhäufungen vorkommen, bereits bei Erstdiagnose einer Darmkrebserkrankung eine MSI-Analyse machen zu lassen.

Die Immuntherapie schlägt sofort an

Der 37-jährige Familienvater bekommt die Immuntherapie. Auch wenn seine Krankenkasse, wie er sagt, zunächst nur die Standard-Behandlungen wie Bestrahlung, Chemotherapie und Operation übernehmen will. Die Onkologen in Großhadern behandeln ihn trotzdem mit der Immuntherapie. Alle vier Wochen muss er für zwei Stunden in der Onkologischen Tagesklinik Großhadern an die Infusion, später nur noch eine halbe Stunde. Die Erfolge der Therapie mit den sehr teuren Medikamenten überzeugen dann auch die Kasse, sie übernimmt die Kosten. "Der Tumor ist so dermaßen schnell zurückgegangen", sagt der Patient. "Es ging stetig bergauf."

Wie Heinemann sagt, müssten die Ärzte zunächst molekulare Untersuchungen vornehmen. Ein molekulares Tumor-Board zeigt zielgerichtete Therapiemöglichkeiten auf. Erst danach könne man einen "Off-Label"-Antrag stellen, um die Therapie mit noch nicht zugelassenen Medikamenten zu beginnen. Manchmal würden diese Anträge dann von der Kasse abgelehnt, dann müsse man Einspruch einlegen. "Das ist dann oft eine schwierige Zeit für den Patienten. Sie zehrt an den Nerven." In der Mehrzahl der 50 Fälle sei man in Großhadern erfolgreich. Seine Vision: in Zukunft neue Therapien schnellstmöglich anzuwenden.

Neben den Erfolgen bei der minimal-invasiven Chirurgie gibt es auch weitere Innovationen wie zum Beispiel bei der Erkennung von Polypen im Darm mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz (KI). Wie Julia Mayerle, Direktorin der Medizinischen Klinik II des LMU Klinikums München sagt, spüre KI bei einer Koloskopie (Darmspiegelung) an die 35 Prozent mehr Polypen auf und halbiere somit die Rate der übersehenen Polypen. Das computergestützte Software-System, das mit einem Bilderkennungsprogramm arbeitet, scannt das Livebild während der Spiegelung nach verdächtigen Schleimhautveränderungen. Das System sei, wie Mayerle erklärt, mit riesigen Datenmengen gefüttert worden.

Am Koloskop, dem schlauchartigen Instrument, das bei einer Spiegelung in den Darm eingeführt wird, befinden sich eine Lichtquelle, eine Kamera und nachgeschaltet der KI-Prozessor. Er schlägt mit einem hellen, kurzen Ton sofort Alarm, wenn er eine verdächtige Stelle ausmacht. Und er markiert die Stelle: mit einem kleinen, grünen Kästchen. Der Arzt sieht es auf dem Bildschirm und überprüft das Gewebe genau, entnimmt Proben oder entfernt den Polypen. Bei besonders großen Polypen wird sorgsam abgewogen, ob bereits ein Tumor vorliegt oder der Polyp abgetragen werden kann.

15 bis 20 Koloskopien machen Gastroenterologen in der Praxis am Tag. In Großhadern, sagt Mayerle, seien es um die zehn pro Untersucher. "Die KI unterstützt den Arzt, ersetzt ihn aber nicht", betont die Ärztin und weist auch auf 30 Prozent falsche Kästchen hin. Dennoch sei KI ein sehr wichtiger "Diagnose-Verbesserer". Sie glaubt, dass sich damit der Zeitpunkt für eine weitere Vorsorge-Koloskopie auch immer weiter nach "hinten verschieben" lasse. Was heißt: Je mehr Polypen KI bei einer Darmspiegelung entdeckt, die dann entfernt werden, umso länger kann abgewartet werden, bis eine erneute Darmspiegelung notwendig ist. Wenn Patienten, so Mayerle, eine unauffällig Vorsorgekoloskopie hatten, dann reiche nach heutiger Datenlage eine erneute Spiegelung 15 Jahre später - vor allem bei Frauen ohne Risikofaktoren.

Noch zu wenige Menschen lassen sich auf eine Koloskopie ein

Laut einer Datenanalyse der AOK nehmen in Deutschland "insgesamt nur 41 Prozent der Männer und 45 Prozent der Frauen" in den von der Krankenkasse vorgesehenen ersten zehn Jahren der erstmals möglichen Inanspruchnahme eine Darmspiegelung wahr. Frauen von 55 Jahren und Männer von 50 Jahren an haben bei der AOK in Deutschland Anspruch auf eine Darmspiegelung. Auch Julia Mayerle hofft, dass weit mehr Patienten diese Chance nutzen. Die Bayern seien da noch "Vorsorgemuffel". "Wenn wir aber die Inzidenzen, die wir momentan haben, halten wollen, müssten wir die Vorsorge-Koloskopie um 200 Prozent anheben", erklärt die Direktorin und verweist auf den demographischen Wandel: "Wir werden alle älter."

Zurück zum Patienten mit der Mikrosatelliteninstabilität. Dem 37-jährigen Bürokaufmann geht es gut. Der Tumor ist weg. Alle vier Monate muss er zur Kontrolle. Er arbeitet, joggt, fährt Fahrrad. Die schlimme Zeit liegt hinter ihm und seiner Familie. Groß gefeiert hat er seine Heilung nicht. Dazu sei er nicht der Typ. Sich aber an allem erfreuen, alles ganz bewusst erleben - das sei gerade sein Motto. Einen Wunsch hat er trotzdem: bald ein Urlaub in Italien, "der Sonne entgegen".

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