Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Bühne? Frei!:Idee wird Projekt

Kultur-Lockdown, Tag 104: Der Dirigent denkt über Musik im Netz nach

Gastbeitrag von Daniel Grossmann

Ende Februar: Schlecht geschlafen, seit Monaten nur von einem Projekt zum nächsten gehetzt, nächste Woche beginnen Endproben zu einer größeren Opernproduktion, gleich danach das nächste Projekt. So geht es weiter bis Mitte Mai. Ich brauche Urlaub! 9. März: Pressekonferenz zum Orff-Jahr 2020, Bernd Sibler spricht kryptisch aber vielsagend von Maßnahmen, die auf uns zukommen, auch auf die Kultur. Ich fange an zu begreifen, hektische Telefonate, versuchen wir uns zu beruhigen, nichts ist sicher ... Nur wenige Tage später ist alles sicher: eine Vollbremsung gegen die Wand. Seltsam, ich fühle mich frei, endlich Aufatmen und Zeit für die Familie, Zeit für Projekte, die seit langen Jahren warten! Einige Wochen Freizeit, und dann geht es weiter, die neuen Termine für die abgesagten Projekte sind schon festgelegt.

April: Zunehmend wird klar, nichts geht weiter, die erste Verzweiflung überkommt mich. Auszeit ist schön, aber unabsehbar lang macht sie mir Angst. Am 29. April 2020 wäre ein wichtiges Konzert anlässlich des 75. Jahrestags des Konzentrationslagers Dachau. Gäste aus der ganzen Welt sollen kommen. Nun wird der Stadt und uns bewusst, dass auch dieses Konzert nicht stattfinden kann. Doch der zuständige Kulturreferent will nicht aufgeben und schafft das, was zu dieser Zeit noch undenkbar scheint: Mit einer Sondergenehmigung nehmen wir den wahrscheinlich ersten Orchester-Videostream der Pandemie auf. Viktor Ullmanns letztes vollendetes Werk im Konzentrationslager Theresienstadt "Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke".

Inspiriert von den Filmaufnahmen: Eine Idee, die mich lange umtreibt, wird zum Projekt. Erweiterung der Tätigkeit des Jewish Chamber Orchestra Munich über die Konzertbühne hinaus. Ein Youtube-Channel als digitaler Ort für deutsch-jüdische Kultur. Nun beschäftige ich mich zusammen mit meinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen intensiv mit der Idee, und wir planen zahlreiche Filmaufnahmen selten gespielter Werke jüdischer Komponisten. So entsteht in den Monaten der Pandemie ein Raum, der sich in den nächsten Jahren zu einem Archiv jüdischer Musik und Kultur entwickeln soll und der schon heute Zuhörer aus der ganzen Welt erreicht, besonders ein junges Publikum.

Die Pandemie ist eine Katastrophe für die Kultur. Ich bin froh, dass etwas entstanden ist, das nicht nur auf die Unmöglichkeit von Konzerten reagiert. Mit JCOM-TV (www.jcomtv.de) hat ein nachhaltiges Projekt begonnen, das auch nach Corona weitergeht und weiterwirkt.

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Quelle:
SZ vom 13.02.2021
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