Der Empfang zur Eröffnung des Dance-Festivals im westlichen Treppenaufgang des Hauses der Kunst wirkt ein bisschen, als sei man in einer Abstellkammer mit Oberlicht gelandet. Doch im 38. Jahr von Dance, unter neuer Leitung von Tobias Staab, ist dem Festival für zeitgenössischen Tanz inhaltlich etwas Großes gelungen. Zumindest an diesem ersten Abend.
Zwei konträre Eröffnungsstücke von Ligia Lewis und dem Ballet National de Marseille / La Horde treffen auf diesen fast demütigen Eröffnungsempfang. Tobias Staab stellt sich vor. Eine Rede vor der versammelten Münchner Tanzszene von Festivalbegründerin und Ex-Staatsballett-Dramaturgin Bettina Wagner-Bergelt über Nina Hümpel, die das Festival die vergangenen zehn Jahre geleitet hat, zum Landes-Tanzverband-Vorsitzenden Walter Heun.
Staab spricht direkt. Auch darüber, was solche Kunst eigentlich angesichts der Weltlage soll – eine Frage, die nicht ganz zu beantworten ist. Darüber, wie freie Künstler unter den Kürzungen leiden. Und wieder das Dilemma, das entsteht, wenn man solche Fragen in Relation zum existenziellen Leid vieler Menschen stellt. Staab wirbt nicht. Er tritt nicht mit der Haltung auf, sowieso auf der richtigen Seite zu stehen. Das tut gut. Vertreter des Kulturreferats, der Stadt, der Kunstszene sind da. Und ein Publikum quer durch alle Mode- und Altersklassen.
Was Staab über das Festival erzählt, ist hingegen nicht neu: Es soll sich öffnen, räumlich in den Stadtraum hinein, erwünscht sind überschrittene Kunstgenregrenzen, Gemeinschaftserfahrung und Vielfältigkeit. Das alles wollte man mindestens in den vergangenen zehn Jahren auch schon. Die tatsächlichen Neuerungen von Tobias Staab sind dann subtiler und – eine großartige Nachricht – an diesem Abend eher ästhetischer Natur.
Es beginnt einen Raum weiter. Ebenerdig, auf einer Art gelber Moos-Gummi-Matte wird getanzt. Drei Personen (darunter die Choreografin Ligia Lewis selbst) gestalten „deader than dead“, eine von Macbeth ausgehende Zustandsbeschreibung von Körpern zwischen Leben und Leblosigkeit. Es ist, als würde hier eine falsche Gravität herrschen. Als würden die Körper von irgendetwas beschwert. Bewegungen, die eine lässige, fast sportive Haltung mit einem grundsätzlichen Zittern in Nervosität verwandeln.

Der Assoziationsraum ist weit: über Renaissance-Musik zu Vocoder-Gesang. Über Macbeth zu Saturday Night Fever. Schließlich Wechselschritt zu Techno, was eine Art Erlösung bringen soll, aber in diesem Effekt zuletzt mit vielen ähnlichen Stücken ein bisschen überstrapaziert wurde. Das ist aber auch das Einzige, was nicht ganz aufgeht. Das Stück ist anspruchsvoll, es erklärt sich nicht. Es ist politisch, ohne zu agitieren. Es ist sinnlich, ohne zu betören. Und es hat größtenteils eine ungewohnte Bewegungssprache. Hierin unterscheidet es sich am meisten von den Vorgänger-Editionen von Dance. Die klassischen Modern-Dance-Muster sind konsequent etwas Eigenartigerem gewichen.
Das eint es mit der Collage „The Master’s Tools“ vom Ballet National de Marseille / La Horde, anschließend in der Muffathalle: Eine besprühte Stretch-Limousine steht mitten im Raum. Eine Straßengang sitzt darauf und darum, besprüht den Boden („Tomorrow is cancelled“), putzt ihn gleichzeitig als eine absurde Sisyphusarbeit. Bis sich eine Truppe Tänzer zum Ensemble formiert und am anderen Ende der Halle in drei Durchgängen eine völlig irre Jumpstyle-Choreografie aufführt. Ein Internet-Phänomen im Stil von „Wer kann länger und am exzessivsten Hüpfen“.
Und diese Tänzer liegen da bezüglich Ausdauer und Virtuosität ganz vorne. Ein Streetstyle-Battle, das entsprechend euphorisch vom Publikum gefeiert wird. In den Raumformationen ist dieses Gehüpfe witzigerweise den großen Ballettklassikern mit Manegen, Diagonalen und Synchronblöcken erstaunlich nah. Die Gesamtdramaturgie aber ist schön durchgehangen, wie ein Nachmittag in der Sonne mit der Gang, an dem sich zufällig Dinge ereignen. Eine unterschwellige Bedrohlichkeit geht von der Gruppe aus. Als Außenstehender hat man hier eigentlich gar nichts zu suchen. Und spürt doch die Zugehörigkeit, die hier gestiftet wird, ungemein.

Es vermischen sich an diesem ersten Dance-Abend Ideen von Zukunft, Politik und Gesellschaft. Dass das ohne moralische Eindeutigkeiten, ohne woke Zeigefinger oder konservative Verweigerung geschieht, lässt hoffen. Kunst kann doch was! Vor allem, wenn sie das nutzt, was sie ist: Nämlich abseits der biederen Ausformulierung einer wünschenswerten Wirklichkeit etwas über die Sinne und Zustände zu erzählen. Individuell in der darin liegenden Aussage für jeden Einzelnen. Aber kollektiv in der Wirkung.

