Süddeutsche Zeitung

"Dance 2021 München":Kopfüber ins Ungewisse

Bei Dance wird mit der digitalen Form experimentiert. Das kann verblüffen

Von Eva-Elisabeth Fischer, Sabine Leucht und Rita Argauer

Halbzeit bei der Tanzbiennale Dance. Es hat sich längst die Einsicht verfestigt, dass ein digitales Festival sui generis ein Widerspruch in sich sein muss: Man glotzt und kommentiert vor dem Bildschirm monologisch das Gesehene in Ermangelung leibhaftiger Gesprächspartner. Immerhin hat Festivalleiterin Nina Hümpel zusammen mit Dramaturgin Katja Schneider das Programm so angelegt, dass sich interessante Rückschlüsse zu aktuellen Aufführungen ziehen lassen dank exzellenter Beispiele aus der jüngeren Tanzgeschichte. Sie haben einen Namen und eine Geschichte, die genialischen Vorläufer ihrer im Glücksfall handwerklich sauber und atmosphärisch ansprechend arbeitenden Epigonen.

So denkt man unwillkürlich an sie, an die flämische Choreografin und Tänzerin Anne Teresa De Keersmaeker angesichts des Festival-Eröffnungsstücks ihres Landsmannes Jan Martens. Es sind drei Dokumentationen, die Einblick in das Schaffen über gut drei Jahrzehnte der einstmals sehr verschlossenen, heute überraschend eloquenten, der stets sehr strengen, aber auch unerwartet lustigen Schöpferin des Minimal Dance belgischer Prägung gestatten. "Die Musik war mein erster Partner", sagt sie in dem Film "Mitten". Es sind existenzielle Erfahrungen und philosophische Fragen, die sie in ihrer Choreografie zu sechs Bach'schen Cello-Suiten zum Ausdruck bringen will, eng verknüpft mit den kompositorischen Vorgaben, welche sie mit dem Cellisten Jean-Guihen Queyras diskutiert. Fragen, die sie 1986 bei ihrem Abend "Bartók aantekeningen" sowie dem Probenbericht "Hoppla" dazu noch als Lebensgefühl inszenierte: in einem komplexen aber auch frechen Frauenquartett samt weiß blitzenden Unterhosen, schwingenden Röcken und klackenden Stiefelsohlen schwarzer Dr. Martens. "Rain" ist der längste (und leider erkenntnisärmste) Film über ihre Arbeit mit Balletttänzern der Pariser Oper an einem 65-minütigen Tanzmarathon zu "Music for 18 Musicians", Minimal Music pur ihres Leib-und-Magen-Komponisten Steve Reich. Die Patterns des Minimalismus, wie sie die Komponisten und auch die Choreografinnen des Post Modern Dance der 1960er- und 1970er-Jahre kreierten, unter ihnen auch die gläsern heißkalte Lucinda Childs, sie fanden und finden sich wieder in der Kunst von Anne Teresa De Keersmaeker. Und sie wirken weiter bis heute. Eva-Elisabeth Fischer

Das Schicksal von "The Urge" kann man nur tragisch nennen. In Ceren Orans "bislang größtem Experiment" liegt die Idee, die sich im ersten Lockdown zwischen Küchenschränken, auf Balkonen oder beim Putzen Platz verschaffende Tanzlust aus ihren engen Rahmungen zu befreien. Youtube-Wohnzimmer-Tänzer von Brighton bis Athen lieferten das Rohmaterial für eine Choreografie, die live und simultan in Berlin, München und Köln ins Offene getragen werden sollte. Vor leibhaftige Menschen, an die Luft. Dass das Stück das Potenzial dazu hat, wurde beim Probenbesuch offensichtlich: beflügelnd, was die Münchner Fünfergruppe unter Orans Leitung da zeigte. Man spürte, dass Raumforderungen des Körpers nicht nur den Körper betreffen; ahnte, was es bedeutet, diese Erfahrung mit anderen zu teilen, und sah Bewegungen, die davon erzählen, verstaut und gestaucht worden zu sein. Es fehlte nur: die Simultanität. Die gab es jetzt: In einem Online-Suchbild-Mosaik aus München, Berlin und Köln war zu sehen, wie Orans Co-Choreografen Maayan Reiter und Rotem Weismann und die anderen Tänzer die Choreografie einfärben. Die Schönheit der Idee wird klar. Aber ach, der Tanz! Ist wieder zurückgewandert ins Enge, Eckige. Und gleich hängt schon mal der Stream. Sabine Leucht

Das Digitale als neue Lebenswelt - einem Choreografen wie Richard Siegal scheint das keine Herausforderung zu sein, sondern schon lange sein künstlerisches Umfeld. Mal ließ er sich von seltsamen Apparaten, mal von Computerprogrammen inspirieren. Gerade vor diesem Hintergrund aber enttäuscht sein Stück "Two for the show ...". Die lange, zum Teil auf Spitze getanzte Strecke zu Beginn ist schön, aber sie stört nicht weiter - so wie eine gute Barmusik, die im Hintergrund läuft. Mehr aber nicht. Die einst so unvergleichliche Mischung zwischen Lässigkeit und aufregender Dringlichkeit, die etwa "Unitxt" auszeichnete, ist einer selbstzufriedenen Gleichgültigkeit gewichen. In Teil zwei trifft dann Tanz auf Influencer-Satire und Gamer-Wirrwarr. Doch die Kritik an den Medien bleibt so flach wie der heimische Bildschirm.

Viel spannender ist da die Ausstrahlung einer Live-Aufführung von "North Korea Dance" der südkoreanischen Choreografin Eun-Me Ahn. Auf ungemein fein verwobene Art vermischt Ahn Volkstanz, Militärästhetik und Popkultur und zieht die Bilder, die man aus dem abgeriegelten Staat Nordkorea kennt, über die Grenze. Sie konfrontiert diese Bilder mit der gemeinsamen koreanischen Tradition und der zeitgenössischen Pop-Ästhetik Südkoreas. Lustig und sinnlich zelebriert Ahn so eine künstlerische Wiedervereinigung beider Koreas: farbenfroh, effektreich und berührend. Und das erste Mal innerhalb dieser Ausgabe von Dance ist es fast völlig egal, dass man nur eine vorher aufgezeichnete Aufführung sieht - denn der Irrwitz dieser Nummernrevue über ein zwangsgeteiltes Land ist schon aufregend genug. Rita Argauer

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SZ vom 12.05.2021/van
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