Zwanzigerjahre-Hommage:Berliner Charakterköpfe

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Janet Bens spielt die fabelhafte Sängerin Claire Waldoff, Herbert Müller den scharfzüngigen Literaten Kurt Tucholsky. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Das Hoftheater feiert Claire Waldoff, Kurt Tucholsky und Heinrich Zille als Künstler und Freigeister

Von Dorothea Friedrich, Bergkirchen

Welche Frauengruppe fordert gerade "Männer raus aus'm Reichstag"? Was soll "wegen Emil seine unanständ'ge Lust" geschehen oder auch nicht? Gibt es eine Antwort auf die Frage "Wer schmeißt denn da mit Lehm?" Janet Bens und Herbert Müller lösten diese Rätsel am vergangenen Donnerstag im Hoftheater Bergkirchen.

"Nach meene Beene is' ja janz Berlin verrückt" ist eine musikalisch-literarische Reverenz an die Sängerin Claire Waldoff sowie den scharfsinnigen und -züngigen Kurt Tucholsky. Dritter im Bunde dieser herausragenden Persönlichkeiten im irren Berlin der 1920er Jahre ist Heinrich Zille, der vor allem als sozialkritischer Karikaturist im Gedächtnis geblieben ist.

Schlaglichtartig, gut verpackt in Lieder und Geschichten von und über Waldoff, Tucholsky und Zille beleuchten Bens und Müller die angeblich so goldenen Zwanziger - Parallelen zur Gegenwart inklusive. Sie lassen als Hinterhof-Proletariat maskierte "Grunewald-Snobs" zum "Hofball bei Zille" auflaufen. Was fatal an heutige Charity-Events erinnert, denen allerdings eine Claire Waldoff und deren unnachahmliche Direktheit fehlt. Hätten Frau und Mann seinerzeit beispielsweise Waldoffs Forderung ernstgenommen und die Männer aus dem Reichstag verbannt, wäre heute womöglich nicht nur die Diskussion über Frauen in Führungspositionen obsolet. So etwas wird man ja wohl noch träumen dürfen, wenn Bens mit vollem Stimmeinsatz - und immer einfühlsam begleitet von Anna Nam Winkler am Klavier - dieses und andere Glanzstücke Berliner Schnauzen-Lyrik singt.

Eher als Albtraum erweist sich hingegen Egons unanständige Lust. Will doch der Typ partout eine per Chirurgie optimierte Freundin. Diese aber - Mädels aufgepasst! - weigert sich wortgewaltig, das bizarre Ansinnen zu erfüllen. Ob die Dame dabei auch mit Lehm geschmissen hat, ist eher zweifelhaft. Denn dieser Waldoff-Song wirbt anders, als es der Titel vermuten lässt, für Toleranz und höflich-respektvollen Umgang miteinander.

Wer aber war diese Claire Waldoff, deren Markenzeichen das strenge Herren-Outfit war, lange bevor Marlene Dietrich dieses für sich entdeckt hatte? Die weltberühmte Marlene hat übrigens - auch das ist an diesem Abend zu erfahren - Waldoff einen gehörigen Karriereschub zu verdanken. Janet Bens, gebürtige Berlinerin und bekennender Waldoff-Fan, erzählt und singt, warum: Clara Wortmann kam 1884 als elftes von 16 Kindern einer Gastwirtsfamilie in Gelsenkirchen zur Welt. Das Kind sollte es mal besser haben, die Eltern schickten Clara zum Zwecke höherer Bildung nach Hannover. Der Berufswunsch Ärztin blieb ein schöner Traum. Aus Clara wurde Claire und mit Umwegen übers niedersächsische Bad Pyrmont und heutige polnische Katowice (Kattowitz) ein echter Star.

Was heutzutage vielerorts noch unmöglich ist, lebten Claire Waldoff (und Frauen aller sozialen Schichten) in Berlin genüsslich aus: ihre Liebe zu Frauen. Zu gerne hätte man noch gewusst, ob Claire und ihre Lebensgefährtin Olga von Roeder das später in Bayerisch Gmain ebenfalls taten. Dort wohnte das Paar von 1939 bis zu Claires Tod 1957. Da war sie längst aus dem Gedächtnis der Republik entschwunden - anders als Kurt Tucholsky, der aus aktuellem Anlass gerade wieder Hochkonjunktur hat.

Herbert Müller genügen ein eleganter Hut auf dem Kopf und eine alte Schreibmaschine, auf der er wild herumtippt: Und schon ist er Tucholsky, Peter Panter, Kaspar Hauser, Theobald Tiger oder Ignaz Wrobel - je nachdem, unter welchem Pseudonym der leidenschaftliche Publizist Tucholsky gerade geschrieben hatte oder wegen der Zensur hatte schreiben müssen.

Das ist nicht der Autor der federleichten Rheinsberg- und Schloss-Gripsholm-Prosa; es ist der unermüdliche Kritiker sozialer Verwerfungen und brauner Nazigefahr, der eine Stimme bekommt. Und es ist die an diesem kenntnisreich und liebevoll durchdachten Abend etwas kurz geratene Geschichte eines Lebens, das zwar wohlbehütet 1890 in Berlin begonnen hatte, aber 1935 tragisch im Göteborger Exil endete. Was bleibt: Tucholsky und Waldoff sind ein echter Gewinn - übrigens nicht nur im Hoftheater Bergkirchen.

© SZ vom 29.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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