Zeitzeuge in Dachau:In die Vergangenheit eingetaucht

Zahlen, Daten und Fakten sind wichtig für ein Verständnis der Geschichte, aber wer Josef Salomonovič zuhört, kann sie auch emotional erfahren. Deshalb hat die Greta-Fischer-Schule den Holocaust-Überlebenden eingeladen - und die Kinder lauschen ihm gebannt

Von Christiane Bracht, Dachau

Geschichte zu begreifen, das ist schwierig, wenn man nur Zahlen, Daten und Fakten auswendig lernt. Die Greta-Fischer-Schule in Dachau will ihren Jugendlichen mehr bieten. Sie sollen in die Vergangenheit eintauchen und sie emotional erfahren können. Und so kam Josef Salomonovič am Dienstag in die Schule und erzählte sehr anschaulich aus der Sicht des Kindes, das er seinerzeit war, über das Leben im jüdischen Ghetto in Łódź, dem Lager Auschwitz und seiner Zeit in Dresden und im KZ Stutthof. "Das erste, an das ich mich erinnern kann, war im September oder Oktober 1941." Salmonovič war gerade mal drei Jahre alt. Die Familie war bereits ein Jahr zuvor nach Prag geflohen, um den Nazis zu entgehen. "Meine Mutter zog mir drei Pullover an und ein Hemd darüber, dann zog sie mich in Panik wieder aus und ich habe geweint. Ab da musste ich täglich ein Hemd und zwei Pullover anziehen, einen weißen Wintermantel und weiße Schuhe. Als ich sie fragte: Warum? Sagte meine Mutter wir fahren auf einen Ausflug nach Polen. Ich freute mich."

Er erzählt von der Enge im Ghetto

Zu Fuß ging die Familie zur Sammelstelle am Messegelände, wo etwa 1000 Menschen waren. "Das hat mir sehr gut gefallen. Da konnte ich über die Leute steigen." Jeder bekam einen Löffel, eine Decke und einen Koffer. Den Löffel hat Salomonovič noch immer. Er hat ihn begleitet ein Leben lang und wie zum Beweis, dass es wahr ist, was er erzählt, zieht er ihn aus der Tasche seines Jackets, zeigt ihn den Schülern und reicht ihn herum. Dieser Löffel und ein winziges Flugzeug aus Metall, das er bei der Befreiung von einem Amerikaner bekam, ist alles was ihm von dieser schwierigen Zeit geblieben ist. Die 15-Jährigen lauschen gespannt. Obwohl die Luft im voll besetzten Klassenraum zum Schneiden dick ist, ist kein Mucks zu hören. "Von den 1000 Leuten haben nur 46 den Krieg überlebt und nur zwei davon sind jetzt noch am Leben: mein Bruder Michael und ich", sagt Salomonovič. Er erzählt von der Enge im Ghetto, davon, dass alle arbeiten mussten, nur er nicht. Wie die SS begann, die Kinder umzubringen, weil sie "unnütze Esser" waren. Als die Offiziere schon unten im Haus waren, zwangen die Eltern den kleinen Josef eine Leiter hinauf aufs Dach zu steigen in eine Luke, deren Klappe sie schnell schlossen. Die Leiter wurde versteckt. Salmonovič durfte keinen Mucks von sich geben und sich nicht mehr rühren. Danach gab es nur noch zwei weitere Kinder.

Zeitzeuge in Dachau: Gebannt lauschen die Neuntklässler den Erzählungen von Josef Salomonovič.

Gebannt lauschen die Neuntklässler den Erzählungen von Josef Salomonovič.

(Foto: Toni Heigl)

Dann kam die Rettung von oben

1944 wurde die Familie mit etwa 90 anderen in einem Viehwaggon erst nach Ausschwitz deportiert, dann ins Konzentrationslager Stutthof. "Bei der Ankunft wurden wir getrennt, danach habe ich meinen Vater nie mehr gesehen", sagt der inzwischen 78-Jährige. Die Frauen und Kinder mussten sich entblößen, wurden rasiert und desinfiziert. Eine Lager-Aufseherin hatte Mitleid mit dem kleinen Josef, sie gab ihm seine Schuhe und Kleider wieder. "Meine Tochter heißt jetzt so wie sie: Katja", erzählt der Überlebende den Schülern. "Vier Jahre lang bin ich nicht gewachsen. Ich habe immer die gleichen Schuhe und den weißen Mantel getragen, nur meine Milchzähne habe ich verloren, da konnte ich nicht mehr beißen." Seine Mutter schabte ihm mit dem Löffel Karotten, damit er nicht verhungern würde oder bastelte Strohhalme, damit er beispielsweise Öl von Sardinen herunterschlürfen konnte.

Als die Ostfront vorrückte mussten die Häftlinge nach Dresden. Salomonovičs Mutter und Bruder arbeiteten dort in einer Munitionsfabrik. Er selbst musste sich beim Zählappell immer verstecken in einer Tonne mit schmutziger Wäsche. "Am 12. Februar wurde ich entdeckt. Der Offizier brüllte: 'Dieser Dreck muss weg.' Am nächsten Tag sollte ich erschossen werden, aber dann kam die Rettung von oben", erzählt Salomonovič. Bei dem Luftangriff der Amerikaner und Engländer wurde auch die Fabrik getroffen.

Zeitzeuge in Dachau: Josef Salomonovič war als Kind in Ausschwitz.

Josef Salomonovič war als Kind in Ausschwitz.

(Foto: Toni Heigl)

Die Schüler hören ihm konzentriert zu, einer fragt Salomonovič, warum er seine Geschichte erzählt. "Wenn ich 80 Kindern meine Geschichte erzähle und dadurch statt fünfen nur noch einer der AfD beitritt, dann bin ich glücklich", sagt der Tscheche. "Wenn ich Dresden sehe, stehen mir die Haare zu Berge." Die Neuntklässler haben diese Doppelstunde gefilmt. In den nächsten Monaten wollen sie einen richtigen Film aus dem Material basteln. Dieser soll vielleicht im Fernsehen gezeigt werden, sagt Schulleiterin Irmgard Wilfurth.

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