Zeitgeschichte:Mehr als zwei Leben

Zeitgeschichte: Nach dem Krieg dienten die Baracken auf dem Dachauer KZ-Gelände als billiger Wohnraum für Flüchtlinge und Vertriebene.

Nach dem Krieg dienten die Baracken auf dem Dachauer KZ-Gelände als billiger Wohnraum für Flüchtlinge und Vertriebene.

(Foto: KZ-Gedenkstätte Dachau)

Horst A. Schenk schildert in einem Buch seine Kindheit als Flüchtlingsjunge in Dachau: knapp, unsentimental, historisch fundiert

Von Gregor Schiegl, Dachau

Man erinnert sich gerne zur Zeit, Autobiografien sind in wie nie, dafür muss man weder prominent sein noch hochbetagt. Man muss nicht einmal etwas Interessantes erlebt haben. Abseits dieser Flut geschwätziger Selbstbespiegelungen gibt es allerdings immer noch Autoren wie Horst Schenk, Jahrgang 1941, geboren im Sudetenland, die wirklich etwas zu erzählen haben. Als Teenager emigrierte er in die USA, war Mitarbeiter der US-Air-Force und in Korea stationiert, 1980 wechselte er ins US-Hauptquartier nach Heidelberg und arbeitet als Meteorologe auch für den ARD-Wetterexperten Jörg Kachelmann. Schenk hätte einen dicken Schinken schreiben können, aber es ist nur ein schmales Bändchen geworden mit kaum mehr als 100 Seiten und dem katzenhaft anmutenden Titel: "Meine zwei ersten Leben". Tatsächlich hätte Schenk noch von mindestens drei weiteren Leben erzählen können, aber er fokussiert sich auf die Jahre von Flucht, Vertreibung und Neuanfang - einem Neuanfang ausgerechnet in Dachau, wo die Nazis das erste KZ errichtet hatten.

"Die Jahre, in denen ich in Dachau aufgewachsen bin, sind die Jahre, die mir heutzutage, in Bezug auf Deutschland, am interessantesten vorkommen", sagt Schenk, "denn damals war die Zeit ganz anders als heute. Das war auch der Anstoß für das Buch." Genau genommen war es die in den USA lebende Tochter, die ihn bat, die Herkunft der Familie zu erklären, weil ihre eigene Tochter, Schenks Enkelin, ihr deswegen ständig Löcher in den Bauch fragte.

So beginnt Schenks Buch schon bei den Vorfahren in grauer Vorzeit; man erfährt dass es einen Hobbybotaniker in der Familie gab, nach dem Moose und Flechten benannt sind. Für die Enkelin sicherlich interessant, für das breite Publikum eher nicht so. Aber sobald der Chronist Horst Schenk selbst auftritt, wird das Buch spannend. Es ist ein gut aufgeschriebenes Stück Zeitgeschichte, das sich gerade durch die schnörkellose, einfache Sprache und die knappen Sätze wie eine mündliche Schilderung ausnimmt. Schenk bedient sich eines geschickten Kunstgriffs, indem er einen Enkel namens Max als Zuhörer erfindet, dem er die Geschichte erzählt. Der Junge fragt nach, immer wieder erstaunt über diese sonderbare Zeit, als es noch kein Fernsehen gab und die Schulkinder alle gleichzeitig aufzuspringen hatten, wenn jemand in die Klasse kam. Im Religionsunterricht moniert der Kaplan, wenn die Klappsitze der Kinder nicht alle zugleich hochschlagen. Es müsse sich anhören "wie ein Kanonenschlag und nicht wie ein Maschinengewehr", zitiert Schenk den Geistlichen.

An solchen Sätzen merkt man, dass der Krieg in den Köpfen der Erwachsenen noch lange nachhallt. Die Kinder haben die alten Flaks bereits usurpiert als lustige Karussells, an deren Kurbel man nur schnell genug drehen muss, um im Kreis zu fahren. Schenk kommentiert nicht mehr als nötig, er bleibt in der Rolle des Chronisten und Zeitzeugen, der geduldig die Entwicklungen nachzeichnet, angenehm unaufgeregt und immer um ein vollständiges und authentisches Bild bemüht. Wo die Erinnerung löchrig ist, verweist der Autor auf Berichte anderer, aber er blendet keinen wichtigen historischen Aspekt aus: weder die Brutalität der Tschechen gegenüber den verhassten Deutschen, die Schenk lange Zeit für Schauermärchen hielt, weil seine eigene Familie es relativ unbeschadet aus dem Sudetenland geschafft hatte, noch die grauenhaften Verbrechen der Nazis in den besetzten Ländern, die diesen Hass erst begründeten und nährten.

Persönlich erlebte der kleine Horst - er war damals kaum fünf Jahre alt - die Vertreibung nicht als Verlust. Im Nachhinein erkennt er darin sogar eine glückliche Fügung des Schicksals, und vielleicht liegt darin auch einer der Hauptgründe, dass Schenk seine Geschichte so souverän erzählen kann: Als Kind nahm er die Dinge ungefiltert wahr, aber als Erwachsener reflektiert er sie mit der für eine historische Einordnung nötigen Distanz. Als die Mutter den lärmenden Kindern spaßeshalber zuruft, hier gehe es ja zu "wie in einer Judenschule" erkennt man schon den völkisch-antisemitischen Jargon der Nazis, der in die Alltagssprache der Bevölkerung diffundiert ist. Als Kind wundert sich Schenk über solche Sprüche nur, als Autor befremden sie ihn genauso wie den Leser. Schenk beschönigt nichts, er schwingt sich aber auch nicht zum Richter auf. Seine Eltern seien wohl das gewesen, was man "Kinder ihrer Zeit" nennt. Das ist kein moralisches Urteil; es ist ein historisches.

Für Dachauer Leser sind die Kapitel aus der Nachkriegszeit sicherlich am reizvollsten. Schenk beschreibt Dachau als noch stark bäuerlich geprägte Kleinstadt, in der sich die Menschen nach dem Krieg helfen, so gut es geht. Er schreibt über Ausflüge wie die sonntäglichen Besuche im Kino (unbeheizt und unbelüftet) und die Vergnügungen im Winter, wenn eine eingefasste Fläche auf der Thoma-Wiese geflutet wird, auf der man bei Minustemperaturen wunderbar Eislaufen konnte. Schenk schreibt aber auch über die Verdrängung in Dachau: "Jeder wusste, dass das Konzentrationslager existierte, aber die meisten sprachen nicht offen darüber, zumindest nicht unmittelbar nach dem Krieg." Manche hätten sogar behauptet, "dass die Häftlinge alle Kriminelle gewesen seien, die es verdient hätten, eingesperrt zu werden".

Schenk lässt die Fakten für sich sprechen, und gerade das macht dieses Buch so eindringlich.

Horst A. Schenk: Meine zwei ersten Leben. Eine authentische Schilderung zu Armut, Flucht, Vertreibung und Neuanfang im Nachkriegs-Deutschland. Verlag Hartmut Becker, 2017, 119 Seiten.

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