Süddeutsche Zeitung

Wie aus Renaissance-Kunst Pop Art wird:Die Quadratur der Felge

Für Schüler ist es nicht einfach, unter Leistungsdruck künstlerisch kreativ zu sein. Eine Ausstellung im Effner-Gymnasium zeigt, dass dies durchaus gelingen kann - mit Talent, Mut zum Außergewöhnlichen und nicht zuletzt dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten

Von Anna-Elisa Jakob, Dachau

Gerade noch hat Schulleiter Peter Mareis von den rauschenden Festen gesprochen, die die Kunstvernissagen der Q12 am Josef-Effner-Gymnasium traditionsgemäß seien, da knallen schon die ersten Korken gegen die Wand, und die jungen Künstler stoßen mit Sekt in Pappbechern auf sich an. Wer am Dienstagabend bei der Vernissage die Werke betrachtet und den Schülern zuhört, erkennt ganz unterschiedliche Charaktere und gleichzeitig interessante Parallelen zu den Erfahrungen, die sie in den verschiedenen Kunstseminaren der Oberstufe erlebt haben.

Da gibt es Schüler wie Mark Gschwentner, die trotz - oder vielleicht auch gerade aufgrund der Erfahrungen in dem Projektseminar der Oberstufe - jegliches künstlerische Talent von sich weisen. Es ist nicht so, dass ihn das stören würde; gefallen hat es ihm trotzdem, einen Teil der Fassade des Sportplatzes der Ganztagessschule mit Graffiti zu gestalten. Auch mit dem Ergebnis ist er zufrieden. Außerdem bleibt die Erkenntnis über einen der größten inneren Konflikte in der Kunst: "Es war nicht schwierig, uns zu motivieren, aber wir wussten einfach nicht, wie wir anfangen sollten", erklärt Lino Klemm; auch er war an dem Projekt beteiligt. Lange hatten sie sich auf das Sprayen vorbereitet, doch in dem Moment überwog der Respekt vor dem Werk, das schließlich für längere Zeit an der Fassade bestehen bleiben sollte. Wie löst man diese Hemmungen? "Die haben sich erst gelöst, als wir bereits angefangen hatten und dachten, schlechter kann es nicht mehr werden", wirft Gschwentner ein. Und dann ist es doch gut geworden."

Seine Lehrerin Karin Kottmair konnte im Sommer beobachten, wie die Schüler zum Teil stundenlang vor der Mauer standen, bis sie sich trauten, eine einzige Linie zu malen. Sie zeigt auf einen dicken Strich in Orange, der von einem Mülleimer aufwärts führt. "Allein dafür haben sie bestimmt zwei Stunden gebraucht, so behutsam sind sie vorgegangen", erinnert sie sich. Unterstützt wurden die etwa zehn Schüler von Mitgliedern der Dachauer Streetart-Gruppe Outer Circle, die das Projekt gemeinsam mit ihnen gestaltet haben. Sie zeigten ihnen nicht nur, wie man die Spraydosen richtig hält, sondern machten ihnen auch Mut. Das war wichtig, findet Kottmair: "Weil da jemand war, der ihnen auf Augenhöhe begegnet ist, sie nicht bewertet hat, sondern ihnen das Gefühl gegeben hat, etwas zu können."

Es ist nicht einfach, wenn Kunst und Kreativität auf Bewertungen und Leistungsdruck treffen - man möchte die richtige Balance finden, um zu motivieren. Von dieser Herausforderung sprechen auch diejenigen, deren Begabung an diesem Abend ganz offensichtlich wird, wie beispielsweise bei Laura Wackerl. Die Schülerin ist Feuerwehrfrau und kunstbegeistert - und für ihre Seminararbeit wollte sie herausfinden, was passiert, wenn "man diese zwei Leidenschaften vereint." Sie zeichnete verschiedene Feuerwehrautos aus dem Landkreis, ihr Lehrer bewertete die Arbeit mit "sehr gut". Wer die feine, akkurate Strichführung betrachtet, ahnt, wie viel Zeit und Mühe sie in diese Serie investiert haben muss. Doch die Hemmungen, von denen ihre Mitschüler sprechen, kennt auch sie. Auf keinen Fall wolle sie nach dem Abitur einen künstlerischen Weg verfolgen, einzig Architektur könnte sie sich vorstellen. "Das reine Zeichnen erfüllt mich mit zu viel Druck an mich selbst", erklärt sie.

Ob sie das Gefühl haben, dass ihre künstlerische Begabung in der Schule gefördert oder gar erst hervorgebracht wurde, das hänge jedes Schuljahr wieder von ihren Lehrern ab, da sind sich die Schüler einig. Diejenigen, die Freude an der Kunst gefunden haben, malen und zeichnen auch viel in ihrer Freizeit. Bei Lisa Köber, rote Haare, schwarze Lederjacke, lag es wohl vor allem an ihrer kunstbegeisterten Oma, die sie stets zum Malen ermutigt hat. Nach dem Abitur möchte Köber Design studieren. Für ihre Arbeiten im W-Seminar übersetzte sie mehrere Werke der Renaissance in moderne Comic-Zeichnungen. "Comics habe ich schon immer gerne gesehen und gelesen", erklärt sie. Die Venus, bei Boticelli noch mit sanft gesenktem Blick, reißt bei ihr die Augen weit auf.

Auch andere Schüler adaptierten Werke der Renaissance und der späteren Kunstgeschichte, und entwickelten dabei die Frage, wie sich Körperideale im Laufe der Zeit verändert haben. So zeichnete Lara Engel Boticellis Venus beispielsweise mit halbiertem Hüftumfang, Jan Vermeers Mädchen mit dem Perlenohrring bekam deutlich schmalere Gesichtszüge und hohe Wangenknochen, ein griechischer Diskuswerfer hingegen besonders ausgeprägte Bauchmuskeln. "Die Schönheitsideale des 21. Jahrhunderts", betitelte sie diese Serie. Damit wollte Engel verdeutlichen, wie vergänglich Schönheitsideale eigentlich seien, schreibt sie im Fazit ihrer Seminararbeit. Diese mussten die Schüler des W-Seminars zusätzlich zu ihren Werken abgeben, beides wurde am Ende bewertet. Maximilian Messer, der in seinen Werken Renaissance in Pop Art umgewandelt hat, setzt dem etwas entgegen: "Auch wenn sich die Form der Ideale verändert, gibt es sie doch in allen Zeiten", behauptet er. Irgendwann habe er bemerkt, wie ähnlich sich der Gesichtsausdruck der Venus und der Frau in Roy Lichtensteins Werk "M-Maybe" seien. Die Definition davon, was allgemeinhin als schön angesehen wird, habe sich zwar geändert - doch dass es Ideale wie beispielsweise das der begehrenswerten Frau gibt, das sei über alle Zeiten hinweg gleich geblieben.

Zwischen all den Leinwänden steht ein Fahrrad, um die Reifen sind quadratische Rahmen geschnallt. Es ist das einzige Werk, das nicht in einem Seminar entstanden ist, sondern im regulären Kunstunterricht - und weil es so gut bewertet wurde, wollte man es hier mitaufstellen. Florian Löschnigg, einer der beteiligten Künstler, versteht selbst allerdings nicht so ganz, warum es dieses Stück in die Ausstellung geschafft hat. Ob da ein bisschen Beuys zu erkennen sei? Nee. Duchamp? Ja, das ein bisschen. Für ein Foto nimmt er das Kärtchen mit dem Namen der vier Künstler vom Sattel und schwingt sich auf das leicht rostige Ausstellungsstück. "Kunst kann eben sehr unterschiedlich sein."

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Quelle:
SZ vom 18.01.2020
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