Was ist Heimat?:Mehr als nur ein Ort

Befreiungsfeier am Schießplatz

Jürgen Müller-Hohagen ist Psychoanalytiker mit Schwerpunkt auf den seelischen Nachwirkungen der NS-Vergangenheit, Krieg und politischer Gewalt. Zudem ist er Vizepräsident der Lagergemeinschaft Dachau.

(Foto: Nils P. Jørgensen)

In ihrem Buch "Heimat und Heimaten" suchen Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen Antworten auf die Frage, was alles mit dem Begriff verbunden werden kann

Von Julia Putzger, Dachau

Die zweite Heimat, das ist für viele ganz klar das romantische Ferienhäuschen am Weiher, ein besonders lieb gewonnenes Tal in den Alpen oder ein kleines Fischerdorf irgendwo am Meer. Was aber ist eigentlich die erste Heimat? Auf diese Frage versuchen Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen in ihrem Buch "Heimat und Heimaten. Eine biographische Annäherung" anhand von persönlichen Erzählungen Antworten zu finden.

Denn, so viel ist bereits nach dem Vorwort von Herausgeber und Bezirksheimatpfleger Norbert Göttler klar: Eine allumfassende Antwort kann es auf die Frage, was Heimat ist, eigentlich nicht geben. Eine solche zu finden, das ist allerdings auch nicht Ziel des Buches. Vielmehr soll es zur Beschäftigung mit dem Thema und eigenen Heimaterfahrungen anregen.

Jürgen Müller-Hohagen ist in Dachau kein Unbekannter. Er ist Vizepräsident der Lagergemeinschaft Dachau und beschäftigt sich als Psychoanalytiker intensiv mit den seelischen Nachwirkungen der NS-Vergangenheit. Seine Ehefrau, Ingeborg Müller-Hohagen ist nach jahrelanger Arbeit im Lehrbetrieb heute an verschiedenen Universitäten Dozentin für Montessori-Pädagogik. Beide scheinen in Dachau - sowohl beruflich, als auch hinsichtlich ihres Engagements in der Erinnerungskultur - ihre Heimat gefunden zu haben. Doch nicht nur Dachau ist für die beiden Heimat, auch Beruf, Austausch, Mensch und vieles weitere können Heimat sein, stellen Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen fest.

Ingeborg Müller-Hohagen wird 1938 in Dresden geboren, erlebt in jüngsten Jahren die Zerstörung ihrer damaligen Heimatstadt. Kaum dass das Mädchen eine neue Heimat findet, zieht die Familie schon wieder um. Schließlich wird ihr die Schule und die Montessori-Pädagogik die wichtigste Stütze im Leben, ihre Heimat. Jürgen Müller-Hohagen hingegen schildert, dass er sich in seiner Kindheit schwer tat, Heimatgefühle zu entwickeln, bis er schließlich erkannte, dass das mit der verschleierten NS-Vergangenheit seines Geburtsorts zu tun hat.

Heimat scheint also nichts Statisches, Unveränderliches zu sein, sondern sich der jeweiligen Lebenssituation und den damit verbundenen Herausforderungen anzupassen. Die Schilderungen von Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen erlauben dem Leser somit einen anderen, neuen Blickwinkel auf Erlebnisse, die man im ersten Moment vielleicht gar nicht mit dem Thema Heimat in Verbindung gebracht hätte. Besonders Jürgen Müller-Hohagens häufige Schlussfolgerung zum Ende eines Kapitels im Sinne von "allerdings wurde mir das erst viel später klar" regt den Leser zum Nachdenken über eigene Erfahrungen und den persönlichen Heimatbegriff an. Das von Göttler eingangs beschriebene Ziel wird somit also erfüllt.

In Zeiten von Globalisierung und einer immer schneller werdenden Welt hat der Heimatbegriff in den vergangenen Jahren einen extremen Boom erlebt. In Bayern gelten idyllische Voralpenlandschaft, Lederhosen und gut gefüllte Bierkrüge als Inbegriff von Heimat, der nicht selten instrumentalisiert wird, um alles, das nicht in dieses Bild passt, als fremd und nicht zugehörig abzukapseln. Der Heimatbegriff wird missbraucht und aus seiner angestaubten Schublade gezogen, um Halt in einer sich stetig wandelnden Welt zu geben. Denn, das suggerieren zahlreiche Imagekampagnen, die mit Heimatgefühlen werben: Heimat ist stets idyllisch, ein unberührter Zufluchtsort.

Umso wichtiger ist es, sich tiefergehender mit dem Thema Heimat - oder, wie es der Titel des Buches vorschlägt, gar mehreren Heimaten - zu beschäftigen. Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagens Schilderungen sind dafür bestens geeignet, als dass sie zum Einstieg verhelfen. Als Anleitung oder gar Definition des Heimatbegriffs ist dieses Buch aber keinesfalls zu sehen. Denn Heimat bleibt stets etwas Individuelles, von der Zeit Geprägtes und auch Widersprüchliches. Außerdem zeigt allein die Rede von der "Zweiten Heimat" die Vielfalt dieses Begriffs.

Norbert Göttler (Hg.)/Ingeborg und Jürgen Müller-Hohagen: "Heimat und Heimaten. Eine biographische Annäherung", Bezirk Oberbayern, 76 Seiten, fünf Euro

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