Süddeutsche Zeitung

Versöhnungskirche Dachau:Das Leben als Zufall

Die Bestsellerautorin Ruth Klüger liest in Dachau aus dem noch unveröffentlichten Manuskript ihres ersten Romans

Von Helmut Zeller, Dachau

Dachau wartet noch darauf: Den Wiener und Göttinger Neurosen sollte ein Text über die Dachauer Neurosen folgen, so hatte es die Schriftstellerin Ruth Klüger bei ihrem Besuch im Jahr 2012 der SZ versprochen. Vielleicht hat sie den Text bei ihrem jetzigen Besuch dabei. Auf jeden Fall lässt die Autorin aus Irvine in Kalifornien ihr Dachauer Publikum an einem literarischen Ereignis teilhaben: In der Versöhnungskirche liest Ruth Klüger am Dienstag, 16. Juni (19.30 Uhr), aus ihrem ersten Roman - noch vor der Veröffentlichung aus dem Manuskript unter dem Arbeitstitel "Spielerroman".

1992 erschienen Ruth Klügers Jugenderinnerungen "weiter leben". Das Buch wurde ein Welt-Bestseller. Ihm folgte 2010 ein zweiter Band ihrer Erinnerungen unter dem Titel "unterwegs verloren". Ruth Klüger wurde 1931 in einer jüdischen Familie in Wien geboren. Mit elf Jahren wurde sie nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz und Christianstadt deportiert. Ihr Vater und Bruder wurden nach der Flucht in Frankreich ermordet. Ihr gelang mit der Mutter 1945 die Flucht vom Todesmarsch. Nach der Befreiung in Bayern ging sie 1947 in die USA und studierte Germanistik und Literaturwissenschaft. In ihren beiden Erinnerungsbüchern setzt sich Ruth Klüger mit dem Nachleben des Nationalsozialismus auseinander und den Spuren, die Verfolgung und Todesbedrohung im Leben der Holocaust-Überlebenden hinterlassen haben. Die beiden Bücher zählen zum Besten der Holocaust-Literatur - schonungslos offen, aufrichtig bis zum Schmerz und in einer präzisen, messerscharfen Sprache geschrieben.

Das kennzeichnet auch ihre klugen und scharfsinnigen literaturkritischen Essays, in denen sie unter anderem dem Verhältnis von Frauen und Schreiben oder der Beziehung von Wirklichkeit und Fiktion nachgeht - oder der Frage, wie Literatur mit dem Holocaust umgehen kann. In den Achtzigerjahren war sie das erste Mal in Dachau, an der KZ-Gedenkstätte, sie besuchte auch Bergen-Belsen und war von der "Museumskultur der KZs" entsetzt. "Pathos und Kitsch verstellen doch nur den Blick auf die Realität und werden auch den Opfern nicht gerecht. Das Abstrakte erscheint mir im Umgang mit dem Holocaust als das Richtige", sagte sie im Gespräch über die zunehmende Memorialisierung der Erinnerung.

Nun also, nach einem Lyrikband, der erste fiktive Prosatext der Autorin. Der "Spielerroman" handelt vom Zufall, dem sie ihr Überleben verdankte. Dem Zufall begegnet Ruth Klüger auch in ihrer Spielleidenschaft. Zweimal im Jahr fährt sie mit Freunden nach Las Vegas, um Blackjack zu spielen. "Mich fasziniert der Zufall, die Frage, kann man das Schicksal beeinflussen, den Zufall herbeiführen." Schon 2012 wollte sie darüber eine Novelle schreiben. Der evangelische Pfarrer Björn Mensing, Beauftragter der Landeskirche für Gedenkstättenarbeit, hatte sie zur Vorstellung eines Dokumentarfilms über sie geholt. Jetzt folgt sie seiner erneuten Einladung - mit einer literarischen Sensation in der Tasche. Weniger erwarten ihre Leser nicht.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2509923
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 08.06.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.