Befreiung am 29. April 1945:Was die Dachauer über das KZ wussten

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Zaun und Wachturm an der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Dachau. Was ahnten die Menschen damals von den Gräueltaten hinter den KZ-Mauern? (Foto: dpa)
  • Am 29. April 1945 befreien US-Soldaten das Konzentrationslager Dachau.
  • Unfassbar ist für die Amerikaner, dass die Deutschen nichts von dem gewusst haben wollen. Ahnten sie wirklich nichts? Oder wollte man nichts wissen?
  • Zur Autorin: Annegret Braun ist Ethnologin an der Ludwig-Maximilians-Universität und leitet die Geschichtswerkstatt zur Dachauer Nachkriegszeit.

Von Annegret Braun

Am 29. April 1945 hatte das Grauen für die Häftlinge des Konzentrationslagers Dachau ein Ende. An diesem Tag befreiten amerikanische Streitkräfte der US-Armee mehr als 30 000 Gefangene. Doch für viele, sehr viele, kam die Rettung zu spät. Was die amerikanischen Soldaten dort sahen, erschütterte sie zutiefst. Die Berichte und Briefe, die sie unmittelbar danach schrieben, zeigen, dass ihnen die Worte fehlten: "Nichts kann annähernd den Horror beschreiben, den wir dort gesehen haben", schrieb ein Soldat an seine Frau. Und ein anderer Soldat, nachdem er die geschundenen Körper gesehen hatte: "Es ist unglaublich, wie ein Mensch einen anderen so behandeln kann."

Unfassbar war für die Amerikaner, dass die Deutschen nichts von dem gewusst haben wollen, was hinter diesen Mauern geschah. Ahnte man wirklich nichts? Oder wollte man es nicht wissen, weil sich eine Angst des Todes über das Land gelegt hatte. "Sei still, sonst kommst Du auch rein," raunte man jenen zu, die sich kritisch gegenüber dem Nationalsozialismus äußerten. Dennoch konnte das Morden nicht unbemerkt bleiben. Viele haben die Augen zugemacht, wie zahlreiche Erzählungen belegen, beispielsweise mit den Worten: "Die kommen aus dem Lager nicht mehr raus."

Ein Aufstand - und sein blutiges Ende

Einige Dachauer unterschieden sich von ihnen: Sie wollten diesem Schrecken ein Ende bereiten und planten zusammen mit KZ-Häftlingen einen Aufstand. Er wurde am 28. April 1945 blutig niedergeschlagen. Ludwig Ernst, der damals als 14-jähriger Lehrling in der Sparkasse arbeitete, erinnert sich noch an die niedergeschossenen Aufständischen, die zur Abschreckung auf der Straße liegen gelassen wurden. Als Warnung hängte die SS ein Schild an die Hauswand der Sparkasse, dass es allen so ergehen würde, die sich gegen das Nazi-Regime erheben.

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Wenn die heute noch lebenden Augenzeugen der Folgen des NS-Terrors sagen, sie hätten nichts gewusst, ist das glaubhaft: Sie waren damals noch Kinder und Jugendliche. Denn die Angst der Erwachsenen, dass sich ein Kind verplappert, war groß. "Wir wussten, dass es (Anm. d. Red. : das Konzentrationslager in Dachau) kein Erholungsheim war", erzählt Anne Buban aus Feldgeding, die damals zwölf Jahre alt war. Es sei ein Arbeitslager gewesen, ja, das habe man gewusst. Die Dachauer haben gesehen, wie die Wachposten die Gefangen morgens zur Arbeit trieben. Doch spätestens, als Häftlinge auf Todesmärschen durch Dörfer in die Richtung des Konzentrationslagers Dachau geprügelt wurden, konnte keiner mehr die Augen vor diesen Gräueltaten verschließen.

Abgemagerte Elendsgestalten auf dem Todesmarsch

Anne Buban bleibt ein solcher Todesmarsch in Erinnerung. Es gab mehrere, beispielsweise von Hersbruck oder Flossenbürg nach Dachau: "Zuerst hat man ein ganz komisches Geräusch gehört. Das ist immer lauter geworden. Richtig unheimlich war das." Und dann hat sie es gesehen: Tausende abgemagerte Elendsgestalten schleppten sich in Holzpantinen durch die Straße. Viele von ihnen waren so kraftlos, dass sie sich kaum auf den Beinen halten konnten. "Das war fürchterlich", erinnert sich Anne Buban.

Ihr Vater wollte den Häftlingen etwas zu trinken geben. "Wir haben mit einem Maßkrug das Wasser raus getragen. Die sind nicht zum Trinken gekommen, weil sie vor lauter Durst alles verschüttet haben. Und dann hat der Vater zu ihnen gesagt: 'Nehmt einen Eimer. Aber dann ist der Posten hergekommen und hat gesagt: 'Verschwind mit deinem Wasser. Gib mir an Schluck und hau ab', hat er gesagt. 'Ich muss die zweitausend Mann nach Dachau bringen. Wie weit ist es denn noch?'"

Auch ein anderes Bild steht Anne Buban noch vor Augen: "Da wollte einer abhauen, und den haben sie dann erwischt und verprügelt. Und dann haben sie ihn auf einen Schubkarren geladen und haben den immer wieder runterfallen lassen. Er war schon am Sterben."

Auch eine andere Zeitzeugin erinnert sich: "Als sie durch Haimhausen getrieben wurden, ist meine Mutter am Zaun gestanden und hat Brot aufgeschnitten. Die Häftlinge haben alle durch den Zaun hineingelangt. Meine Mutter hat sich nicht von der SS aufhalten lassen. So lange sie Brot hatte, hat sie es herausgegeben. Nach dem Umsturz ist einer der Häftlinge gekommen und hat sich bedankt und gesagt: Ohne Ihr Brot hätte ich Dachau nicht mehr erreicht."

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Soldaten der 45. US-Infanteriedivision, Thunderbird, rückten vom Westen her auf das SS-Lager vor. Die Gefühle der Menschen waren zwiespältig. Sie warteten ungeduldig auf die Ankunft der Amerikaner. Dann würde der Krieg endlich ein Ende haben. Das durfte man jedoch nicht laut sagen. Viele sind deshalb noch in den letzten Kriegstagen wegen Wehrkraftzersetzung aufgehängt oder erschossen worden. Und gleichzeitig hatten viele Angst vor den Amerikanern, dem "Feind". Die Nationalsozialisten drohten: "Wenn die kommen, die erschießen Euch alle", so erinnert sich eine Frau, die damals 15 Jahre alt war.

Und die damals 20-jährige Anni Schindler aus Sulzemoos erzählt von den Ängsten, die sie ausgestanden hatte. Ihre Familie wurde von den Amerikanern ausquartiert, als die Soldaten am 29. April in Sulzemoos ankamen. Sie richteten in ihrem Elternhaus eine Kommandozentrale ein. Anni und ihre Familie gingen zu Bekannten, die eine gleichaltrige Tochter hatten.

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Beide Eltern befürchteten das Schlimmste für ihre Töchter: "Und dann haben sie uns zwei in der Nacht im Keller versteckt. Mei, wir waren junge Madl damals. In den Keller ging es durch eine Falltür und darauf haben sie eine Couch gestellt, damit es nicht auffällt. Wir haben so viel Angst gehabt und haben keine Minute geschlafen. Auf einmal haben wir einen Schuss gehört. Marie hat gesagt: "Jetzt haben sie unsere Eltern erschossen!" Wir haben uns in der Früh gar nicht getraut, raus zu gehen." Doch die Eltern lebten. Der Schuss, den Anni und Marie gehört hatten, war ein Warnschuss der Amerikaner, weil Annis Vater die Tür nicht schnell genug geöffnet hatte.

Wie die Dachauer die Amerikaner erlebten

Die Menschen im Dachauer Land erlebten die Amerikaner ganz anders, als ihnen erzählt wurde. Die Soldaten waren freundlich, vor allem Kindern gegenüber, und schenkten ihnen Schokolade. Auch eine der ältesten Zeitzeugen im Landkreis Dachau, Katharina Kain, damals 31 Jahre alt und Lehrerin, erinnert sich an einen hilfsbereiten amerikanischer Offizier, der seine Leute vom Plündern abhielt.

Katharina, damals hieß sie noch Huber, verbrachte die letzten Kriegstage bei ihren Eltern auf dem Lederhof in Sulzemoos. Das war, bevor die Soldaten das Konzentrationslager erreicht hatten. Katharina Kain erzählt, dass die Amerikaner nach der Befreiung des Konzentrationslagers wie umgewandelt waren: kühl und distanziert. Wen wundert das? Als die Amerikaner das Konzentrationslager erreichten, standen sie vor Leichenbergen.

Blankes Entsetzen und kalte Wut bei den Befreiern

In ihren Berichten und Briefen beschrieben sie, was sie gesehen hatten: Auf einem Gleis stand ein Güterzug mit ungefähr 40 Waggons. Als die Amerikaner die Türen öffneten, fielen ihnen Leichen entgegen, teilweise schon verwest, viele mit Schusswunden und Spuren von brutaler Misshandlung. Es waren Menschen, die den dreiwöchigen Transport vom KZ Buchenwald nicht überlebt hatten. In den Berichten erzählen die Soldaten auch von den ausgemergelten und kahl geschorenen Häftlingen, die ihre Befreier anfassen und küssen wollten. In diesem Gedränge gerieten einige Häftlinge an den Stromzaun und starben. Auch in den Tagen danach starben noch viele, vor allem an Typhus.

Die Amerikaner erfasste bei diesem Anblick blankes Entsetzen und kalte Wut. Einige richteten SS-Angehörige eigenmächtig im Kohlenhof, bis ein Offizier der US-Armee dazu kam und die Exekution sofort stoppte.

Die Leichen die im Konzentrationslager gefunden wurden, mussten von Bauern und Parteimitgliedern auf Pferdewagen zu einem Massengrab auf den Leitenberg gefahren werden. Um den Dachauern das ganze Elend zu zeigen, wurden die Wagen voller, teils verwester Leichen durch die Stadt gefahren. Keiner konnte sich dem Anblick entziehen. Tagelang fuhren die Leichenwagen an den Häusern vorbei. Ein bestialischer Verwesungsgestank lag über Dachau. Viele von denen, die die Pferde führten, trugen eine Gasmaske. Die Menschen in den Häusern schlossen die Fenster.

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Die Bilder sind den damals jungen Menschen bis heute im Kopf geblieben. "Wie die Amerikaner die Leichen gefunden haben, haben die Bauern sie über die Stadt fahren müssen, dass die Bevölkerung es mitkriegt. Die haben so Wägen gehabt, so Truhenwägen, wie es die Bauern alle gehabt haben. Und da sind die oben gelegen, die Toten. Und das ist etwas, was ich mein Leben lang nicht vergesse, wie die da droben liegen, mit ihren gestreiften Gwandln, und das hing so am Arm runter. Das ist schlimm gewesen", erzählt eine damals 15-Jährige.

Auch die damals zehnjährige Frieda Baszuro erzählt, wie furchtbar für sie die herabhängenden Arme und Beine waren. Die Menschen waren auf den Wagen kreuz und quer zu einem Haufen geworfen worden, eine anonyme Masse. Doch wenn ein Arm oder ein Fuß herunterhing, dann wurde der einzelne Mensch sichtbar. Dieser Anblick traf die Menschen zutiefst.

Annegret Braun ist Ethnologin an der Ludwig Maximilians Universität und leitet die Geschichtswerkstatt zur Dachauer Nachkriegszeit. Sie lebt mit ihrer Familie in Sulzemoos.

© SZ vom 25.04.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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