Welche Rolle spielt Franz Schuberts "Unvollendete", seine achte Sinfonie in h-moll, beim Theatersommer Bergkirchen, wo doch eigentlich "Der Brandner Kaspar und das ewig' Leben" auf dem Programm steht? Die Antwort muss man gesehen und gehört haben, denn das diesjährige Spektakel des Hoftheaters Bergkirchen erweist sich als perfekte Symbiose aus Musik, Schauspiel und gewaltigen Bilderwelten.
Doch der Reihe nach: Als hätten sie's geahnt, dass die Zeiten gerade ziemlich übel sind, haben die Hoftheater-Macherinnen und -Macher bereits im vergangenen Jahr ein komisches und zugleich tröstliches Werk ausgewählt: den Brandner Kaspar. Das Theaterstück beruht auf einer Geschichte von Franz von Kobell (1803-1882), die 1871 erstmals in den Fliegenden Blättern erschienen ist. Sein Ururgroßneffe, der Regisseur und Autor Kurt Wilhelm, hat daraus ein Theaterstück gemacht. Dieses wiederum hat Hoftheater-Chef und Regisseur Herbert Müller nur ganz behutsam bearbeitet, indem er beispielsweise einen Erzähler geschaffen hat, der den Rahmen für diesen bayerischen Klassiker bildet.
Bühnenbildnerin und Kostümgestalterin Ulrike Beckers hat sich selbst übertroffen. Sie hat in Kirchen, Kapellen und bayerischen Museumsdörfern die Motive für ihre hinreißenden riesigen Fotocollagen gefunden, auf denen ein auf seinem Prunkschlitten dahin jagender Ludwig Zwo nicht fehlen darf. Ihren Protagonisten hat sie wahrhaft himmlische Kostüme in Weißblau auf den Leib geschneidert. Max I. Milian hat das riesige Werk Franz Schuberts durchforstet und hat Landler, Galopp, Militärmarsch, Forellenquintett, die Unvollendete und die Sinfonie Nr. 9 für das superb spielende Theatersommer-Quintett so einfühlsam arrangiert, dass man sich die Geschichte vom Brandner Kaspar und dem Boandlkramer gar nicht mehr ohne diese Musik vorstellen mag. So haben sich Schauspiel und Musik untrennbar miteinander verflochten und sich wechselseitig inspiriert. Das gilt auch für Schauspielerinnen und Schauspieler, die - in feinstem Bairisch - in ihren Doppelrollen einmal das irdische und im zweiten Akt das himmlische Personal verkörpern.
Julia Rieblinger spielt die Zwiderwurzen Aloisa Senftl einfach grandios
Die Musik setzt ein, Annalena Lipp, die auch für die Choreografie verantwortlich ist, und Jessica Dauser wirbeln zu Schubert-Musik bayerisch angehaucht über die Bühne. Im Halbdunkel schleicht eine bunte Gesellschaft daher: der schlitzohrige Brandner Kaspar, facettenreich gespielt von Jürgen Füser, seine kreuzbrave Enkelin Marei (eine liebliche Sarah Giebel), der Hallodri Flori (Tobias Zeitz in seinem Element als verliebter Bruder Leichtfuß), Jäger Simmerl (Michael Fuchs, ein dienstbeflissener herzoglicher Untertan), Bäuerin Theres (Annette Thomas, die besorgte Bäuerin) und nicht zuletzt Aloisa Senftl, verwitwete Bürgermeisterin mit wirrem grauem Haar, krummem Buckel und gerne mal als Waffe eingesetztem Stock. Julia Rieblinger spielt diese Zwiderwurzen einfach grandios.
Der Fortgang der Geschichte ist bekannt: Der Brandner wird angeschossen. Der Boandlkramer taucht auf, eine etwas verhärmte Gestalt mit einem Gesicht wie seinerzeit Gustav Gründgens als Mephisto. Aber Ansgar Wilk's Boandlkramer ist kein furchteinflößender Sensenmann. Er ist ein ungeliebtes armes Würstchen, das seine Aufgabe fast widerwillig erfüllt. Das hat Witz und Tiefgang zugleich - und lässt die Begegnung mit dem Tod in einem milden Licht erscheine. Denn er ist hier noch Teil des Lebens und wird nicht tabuisiert.
Der angeschlagene Boandlkramer lässt sich nur zu gerne zu dem einen oder anderen Kersch (Kirschschnaps) überreden. Der Brandner Kaspar ergaunert sich beim Kartenspiel zusätzliche Lebensjahre. Die Zeit vergeht. Der nunmehr brave Bürger Brandner will seinen 75. Geburtstag feiern, doch es kommt anders. Flori kann das Wildern nicht lassen, Marei will ihn aus der Gefahr retten und stirbt selbst.
Ortswechsel: In der bayerischen Himmelskanzlei vertreiben sich der Erzengel Michael, der ewig sein Flammenschwert vergisst (Tobias Zeitz nun als barocke Gestalt im Louis XIV.-Look mit sensationellem Schuhwerk), der fast heilige Nantwein (Michael Fuchs) und der selige Johannes Turmair (Annette Thomas) die Zeit mit Tarockspielen und ausgiebigen Brotzeiten. Bis eine Abordnung aus dem Preußen-Himmel im Stechschritt auftaucht und deren General (Julia Pflüger) energisch auf der Räumung einer Hütte besteht, auf dass künftig die Preußen die Bayern Mores lehren können. Des Boandlkramers Mauschelei fliegt auf, er überredet den Brandner zu einem Kurzbesuch in himmlischen Gefilden, diesem werden nach ausgiebigem Sündenbekenntnis und umwerfend komischen Entschuldigungsgründen seitens des Portners (Herbert Müller) auf Anordnung "der Drei von ganz oben und der Jungfrau Maria" alle Sünden vergeben.
Regisseur Müller hat weise darauf verzichtet, das himmlische Kanzlei-Quartett als geistige Würdenträger in Aktion treten zu lassen. Seine Engel und Heiligen leben die Toleranz, und halten nichts von drakonischen Strafen. Das macht diese Inszenierung neben all den Glanzleistungen auf und hinter der Bühne so sehenswert. Nicht zuletzt macht dieses unvergängliche Stück Volkskultur immer noch Hoffnung in schlimmen Zeiten, so wie Schuberts Musik und die wunderbaren Bilder von Ulrike Beckers.
Weitere Aufführungen in der Halle des TC Lauterbach um 20 Uhr am Donnerstag, Freitag und Samstag, 21./22. und 23. Juli, 28./29. und 30. Juli, 4./5. und 6. August, 11./12. und 13. August sowie 18./19. und 20. August.