Theaterpremiere:Die Tyrannei des einen Rings nicht länger dulden

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Lessings "Nathan der Weise" ist ein zeitloses Plädoyer für Toleranz und Menschlichkeit. Das Hoftheater Bergkirchen bringt das 240 Jahre alte Stück in einer reduzierten Fassung auf die Bühne und knüpft mühelos an gegenwärtige Diskussionen um Vorurteile, Macht und Glaubensfragen an

Von Dorothea Friedrich

Jerusalem: Ein Muslim begnadigt einen gefangen genommenen Christen. Der rettet nur wenig später ein jüdisches Mädchen aus einem brennenden Haus. Eine tolle Story, die heutzutage garantiert in den sozialen Medien Furore machen würde. Und jede Menge Mails und Tweets der zustimmenden oder der hässlichen Art provozieren würde. Diese Mittel der Kommunikation gab es 1779 noch nicht, dafür einen Autor, der am Vorabend der Französischen Revolution ein flammendes Manifest der Humanität und Toleranz schrieb und es in ein romantisches Märchen verpackte: Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781). Sein "Nathan der Weise" gilt gerade heute wieder als Lehrstück und ist Pflichtlektüre im Schulunterricht. Herbert Müller und sein Hoftheater Bergkirchen haben nun eine aufs Wesentliche reduzierte Fassung mit ergänzenden, erklärenden Facts auf die Bühne gebracht, mit dem die Truppe auch an Schulen auftreten wird. Unter dem Namen "Neue Werkbühne München" macht das Ensemble seit 50 Jahren Theater für Schulen. Das tut auch den Erwachsenen gut, wie die Nathan-Premiere am Freitag im Hoftheater gezeigt hat.

Jürgen Füser (rechts) als Nathan der Weise mit Ansgar Wilk als Sultan Saladin. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Ein paar Hocker vor einem fabelhaften Bühnenbild von Ulrike Beckers mit einer wilden Collage aus aktuellen Jerusalem-Fotos, kunstvollen Bildern edler Ritter aus mittelalterlichen Handschriften und einer real existierenden Jerusalemer Mauer, deren Stacheldraht Ulrike Beckers Angst einflößend rot gefärbt hat. Das versetzt die Zuschauer mittenhinein ins mittelalterliche Geschehen - und zugleich in die brutale Gegenwart. Jürgen Füser changiert als Nathan zwischen der an Arroganz grenzenden Selbstsicherheit eines erfolgreichen jüdischen Kaufmanns und der Weisheit eines lebenserfahrenen Philosophen, dessen "Waffen" seine Menschlichkeit und seine Beredsamkeit sind. Jessica Dauser ist in einer Doppelrolle seine liebreizende und unsterblich verliebte Tochter Recha sowie deren rotzfreche christliche Dienerin Daja. Robert Gregor Kühn ist der in jeder Hinsicht kämpferische Tempelritter, dessen fest gefügtes Weltbild gehörig ins Wanken gerät. Ansgar Wilk spielt in einer weiteren Doppelrolle den unterwürfigen, opportunistischen Klosterbruder, der schließlich Mitgefühl über christliche Dogmen siegen lässt. Als mächtiger und machtbewusster Sultan Saladin ist Wilk ein fast verzweifelt Suchender nach Antworten auf seine Glaubensfragen.

Jessica Dauser konfrontiert als Daja Tempelritter Robert Gregor Kühn mit seinen Vorurteilen. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Die vier befinden sich in einem Geflecht von scheinbar zufälligen Begegnungen, aus dem Lessing sein Drama entwickelt hat. Die Geschichte spielt zur Zeit des dritten Kreuzzugs, mit dem die katholischen Herrscher, darunter Friedrich Barbarossa und Richard Löwenherz, auf Betreiben des Papstes zwischen 1189 und 1192 Jerusalem zurückerobern und die Verbindungen für einen einträglichen Fernhandel im Nahen Osten sichern wollten. Aus plötzlicher Sympathie, deren Ursache am Ende geklärt wird, lässt Sultan Saladin den gefangenen Tempelherrn frei, während dessen Mitkämpfer sterben müssen. Der Tempelherr rettet Recha, die Tochter des wohlhabenden jüdischen Kaufmanns Nathan aus einem brennenden Haus. Sie verliebt sich sofort in ihn. Für ihn ist sie nur ein "Judenmädchen", also keiner weiteren Beachtung würdig.

Bunte Bühne im Hoftheater Bergkirchen. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Doch Gefühle sind stärker als anerzogene Vorurteile. Als der schnöselige Tempelritter auch noch von der Dienerin Daja erfährt, dass Recha Nathans christliche Adoptivtochter ist, fragt er den Patriarchen von Jerusalem - nur als überdimensioniertes Bild auf der Bühne präsent - um Rat. Dessen Antwort als Stimme aus dem Off: "Der Jud (gemeint ist Nathan) muss brennen" - eine der eindrücklichsten Szenen dieses aufwühlenden Theaterabends.

Nathan ist derweil zu Sultan Saladin bestellt. Dieser will eigentlich nur Geld, und Nathan wäre bereit, sein Geld in die Kriegspläne des muslimischen Herrschers zu investieren. Stattdessen entwickelt sich ein Disput über die Frage, welche der drei monotheistischen Religionen, Judentum, Christentum, Islam, die wahre sei. Dieser Diskurs gipfelt in der berühmten Ringparabel. Deren Aussage: Es gab einmal einen Ring, der vom Vater auf den Lieblingssohn vererbt wurde. Doch irgendwann hatte ein Vater drei Lieblingssöhne, ließ kunstvolle Kopien des Rings anfertigen - und niemand konnte mehr erkennen, welcher das Original war. Dass und wie sich die Herzens- und Glaubensfragen auflösen, sollte man sich unbedingt ansehen.

Warum? Weil Müller sich in seiner Nathan-Adaption auf die Hauptpersonen des Stücks beschränkt und so einen Handlungsstrang geschaffen hat, der keinerlei Ablenkung vom Thema Toleranz und Menschlichkeit zulässt. Ein weiterer Pluspunkt dieser Inszenierung ist die gescheite Dramaturgie. Gehen die Darsteller in ihren Rollen auf, ist Lessing im Original zu hören. Sind sie Erzähler, so hat Müller eine moderne Sprache gewählt: Das macht die historischen Hintergründe von Kreuzzügen und Religionskriegen, vom sehr weltlichem Machthunger geistlicher Führer, von gnadenloser Brutalität und Fanatismus, die bis in die heutige Zeit nachwirken oder grausame Wiederauferstehung erleben, umso greifbarer. Dazu kommt eine verblüffende Musikauswahl: Maurice Ravels Bolero hämmert die hitzigen und leidenschaftlichen Wortgefechte ins Hirn. Oscar Straus "Ronde" aus dem Film "Der Reigen" umsäuselt Recha und den Tempelherrn. Johann Sebastian Bachs Toccata und Fuge in d-Moll wirkt dort, wo Worte versagen.

Genialer Schlussakkord ist ein Auszug aus der Rede des Historikers und Holocaust-Überlebenden Saul Friedländer am 31. Januar im Deutschen Bundestag: "Wir alle hoffen, dass Sie die moralische Standfestigkeit besitzen, weiterhin für Toleranz und Inklusivität, Menschlichkeit und Freiheit, kurzum für die wahre Demokratie zu kämpfen." Denn "Fremdenhass, die Verlockung autoritärer Herrschaftspraktiken und insbesondere ein sich immer weiter verschärfender Nationalismus sind überall auf der Welt in Besorgnis erregender Weise auf dem Vormarsch."

© SZ vom 11.02.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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