Tassilo-Preis-Kandidat:Kunst ohne Ego

Der Sprayer Johannes Wirthmüller hat sich aus illegalen Anfängen zum bekanntesten Graffiti-Künstler der Stadt entwickelt.

Von Anna-Sophia Lang, Dachau

Johannes Wirthmüller hat nicht viel Zeit. Ein kurzes Gespräch, dann macht er sich mit ein paar Freunden auf den Weg nach Slowenien. Das Ziel: Metelkova in der Hauptstadt Ljubljana. Ein Zentrum alternativer Kunst auf einem ehemaligen Kasernengelände mitten in der Stadt. Hier treffen sich Aktivisten, Maler, Musiker und Studenten. Menschen wie Wirthmüller. Seit er zwölf oder 13 Jahre alt ist, so genau weiß er es nicht mehr, malt er Graffitis. Zuerst als illegaler Sprayer, was ihn einiges an Ärger und Geld kostetet. Seitdem hat sich vieles geändert. Heute ist er 24 und wird in der Stadt Dachau, deren bekanntester Graffiti-Künstler er ist, geschätzt und gefördert.

Die Reise nach Ljubljana ist ein spontaner Trip wie viele von Wirthmüllers Reisen. Immer wieder macht er sich auf den Weg, fährt in Deutschland herum, nach Osteuropa oder in den Süden. Zuletzt war er in Catania auf Sizilien. Und jetzt also Ljubljana. Dort will er malen, lokale Künstler treffen, sich inspirieren lassen. Und einfach die fremde Stadt genießen. Ein Teil privates Reisevergnügen, ein Teil berufliches Interesse. "Das geht immer einher." Herumzufahren, sagt er, sei Teil der Sprayer-Kultur. "Die Szene ist stark vernetzt, im Austausch liegt das Potenzial." Meistens kennt er an seinen Zielorten irgendwen, über den er eine Unterkunft findet. Im Idealfall sind es Menschen, die selbst sprühen. Manchmal gibt es sogenannte Jams: "Du fährst hin, triffst dich und sprühst." Deshalb ist Graffiti für Wirthmüller die aktivste Kunst, die mit dem größten Output. "Das heißt nicht, dass sie besser ist, aber energetischer."

Das Wort "Graffiti" will er eigentlich gar nicht verwenden. "Das ist nur ein Schubladenbegriff." Stattdessen spricht er von "Style-Writing". Auf Deutsch: Schriften malen, Schriften illuminieren, wie man es von den reich verzierten Anfangsbuchstaben aus alten Büchern kennt. Figuren spielen dort zwar auch eine Rolle, aber ihnen zugrunde liegt immer das Schriftbild. Ein A oder ein E bilden die Basis für Formen und Figuren. Auch Körper, Tiere oder Gesichter können so entstehen, sind aber grafisch und zugespitzt, ihre Gestaltung orientiert sich immer am Buchstaben. Es ist eine Art des Sprühens, die sich Wirthmüller nach und nach erarbeitet hat. Das Werk am Spazierweg hinter der Klosterschule in der Dachauer Altstadt bezeichnet er deshalb als sein aktuellstes und bedeutendstes Werk. Gemeinsam mit einer Gruppe von Sprayern aus Dachau hat er die Wand am Hofgartenweg neu gestaltet. Es besteht nicht aus einzelnen Stücken, sondern aus ineinander übergehenden Teilen, die sich schrittweise farblich verändern. Buchstaben werden auseinandergenommen und ihre Fragmente miteinander kombiniert. "Die Quintessenz ist immer die gleiche: lateinische Schriftzeichen, die neu zusammengesetzt werden."

Grafitto am Hofgartenweg

Die Wandbemalung hinter der Klosterschule in der Dachauer Altstadt zählt Johannes Wirthmüller zu seinen wichtigsten Werken. Er hat es zusammen mit einer Gruppe Dachauer Sprayer gestaltet.

(Foto: Joergensen)

Es ist eben diese Art der Zusammenarbeit mit anderen Künstlern, die Wirthmüller an Dachau so schätzt. Keiner steht im Mittelpunkt. Besonders bei Bildern im öffentlichen Raum. "Die machen wir hier immer in Gemeinschaft. Wir beeinflussen uns da gegenseitig." Das Ego spielt keine Rolle. Eitel ist Wirthmüller auf keinen Fall. Das spielt er nicht nur. Es hat ihn gefreut, dass die Kleine Altstadtgalerie im vergangenen September seine Bilder in einer Einzelausstellung zeigte. Es hätte ihm aber auch nichts ausgemacht, wenn er sie mit anderen hätte teilen müssen. "Es liegt mir am Herzen, dass die Sprayer-Kultur weitergeführt wird, dass es vorwärts geht."

Auch solche Überlegungen haben eine Rolle bei seiner Entscheidung gespielt, nicht an der Akademie der Bildenden Künste in München zu bleiben, obwohl er einen Platz hatte. Die klassische Ausbildung, die ehrwürdige Tradition des Hauses, die Umgebung, in die er sich begeben hätte, es war nicht seine Welt. "Ich konnte da nichts rausziehen für mich." Er bewegt sich lieber in einem Umfeld, in dem er sich frei weiterentwickeln kann. "Sprühen lernt man nicht in einer Schule", sagt er, "sondern intuitiv, mit dem Üben."Leicht fiel die Entscheidung nicht, die Eltern sorgten sich naturgemäß um seine Zukunft. Aber es war die richtige Entscheidung.

Gemeinsam mit einem Freund gründete er eine Agentur für die Gestaltung von Fassaden und Leinwänden. Sie läuft gut, Wirthmüller kann davon leben. Es kommen viele Aufträge, auch aus München. Im Gegensatz zur Landeshauptstadt müsse man sich in Dachau nicht permanent gegenseitig ausstechen, sagt er. Die Zahl der Sprayer ist kleiner, und Dachau ist nicht "so überdosiert" mit Graffiti. "Ein gesunder Organismus." Der Job ist das eine, er finanziert den Lebensunterhalt. Wirklich höher schlägt Wirthmüllers Herz, wenn er frei malen kann, ohne Auftrag. Den Tag draußen mit anderen Sprayern verbringen und ohne Vorgaben kreativ sein - er kann sich nichts Schöneres vorstellen. Dann geht es einzig um die Kunst, nicht ums Geld. "Das ist das Schönste, das Harmonischste, da ist der Kunstanspruch größer. Ein Auftrag, eine Kuh oder eine Orange an die Wand zu malen, ist keine Kunst." Dass es ohne Aufträge aber nun mal nicht geht, ist ihm schmerzhaft bewusst. Da ist er Realist. "Für die Leidenschaft muss man immer einen faden Beigeschmack in Kauf nehmen."

Tassilo-Preis-Kandidat: Sie wünschen sich mehr Raum für ihre Kunst, zum Beispiel an Unterführungen wie am Amperweg.

Sie wünschen sich mehr Raum für ihre Kunst, zum Beispiel an Unterführungen wie am Amperweg.

(Foto: Toni Heigl)

Vom Rebellen zum Profi

Solche Sätze klingen sehr erwachsen. Nur noch wenig erinnert an den kleinen Sprayer aus Odelzhausen, der bei Nacht und Nebel um die Häuser zog, um sein Zeichen illegal an Wände zu sprühen. "Im Vergleich zu damals hat sich mein Leben komplett verändert. Die Energie dahinter ist ganz anders." Aus dem rebellischen Hobby wurde sein Beruf. Heute dreht sich alles nur noch um seine Kunst. Das Potenzial seines Wirkens hat auch die Stadt Dachau erkannt. In regelmäßigen Abständen realisiert Wirthmüller Projekte im Auftrag der Stadt, sogar beim Besuch der Dachauer Delegation in der italienischen Partnerstadt Fondi im September war Wirthmüller mit einem weiteren Dachauer Sprayer dabei. Mehr Raum für neue Projekte, etwa in Unterführungen, wünscht er sich zwar. Für Tobias Schneider, den Leiter des Kulturamts, hat er trotzdem viel Lob übrig. Der habe ein Auge für Neues, Junges.

Auch vom Vorsitzenden der Künstlervereinigung Dachau, Johannes Karl, fühlt sich Wirthmüller verstanden und gefördert. "Die geistige, mentale Unterstützung in Dachau ist groß." Selbstverständlich ist das nicht. Gerade in Bayern haben es Sprayer schwer, frei zugänglichen Raum für ihre Kunst zu finden. Auf seinen Reisen hat Wirthmüller gesehen, dass es auch anders geht. Und beobachtet, dass sich die Kunst mit dem Land verändert: Kantiger in Osteuropa, verspielter und runder im Süden, akkurater und penibler in Deutschland. Ein Phänomen, von dem sich Wirthmüller selbst nicht ausnehmen kann, "leider". Aber Reisen bildet ja bekanntlich. Vielleicht gibt es in Dachau bald Spraykunst mit slowenischen Einflüssen zu sehen.

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