Das fahle Licht des Mondes fällt auf den Asphalt, man ahnt den finsteren Wald zu beiden Seiten der Straße mehr, als dass man ihn sieht. Ab und zu tauchen Scheinwerfer die Bäume für Sekunden in grelles Licht, bevor sie in der Dunkelheit verschwinden. Und da steht sie, die Hubertuskapelle, der Ort einer Spukgeschichte, die Gänsehaut verursacht. Der Fahrer im Wagen eines Fernsehteams verlangsamt allmählich das Tempo. Da, an der Straße, auf Höhe der Kapelle, da ist doch etwas. Ein Nebelfetzen, die Gestalt einer Frau, der "weißen Frau" ? Ein grausiger Schrei ertönt, der Wagen gerät ins Schlingern, es kracht. . .
Um ein Schauermärchen zusammenzubrauen, genügen wenige Zutaten: Wald, Schloss, Friedhof oder Kapelle und der tragische Tod respektive das finstere Geheimnis einer jungen Frau, die keine Ruhe findet und sich in einen Geist verwandelt. So wie in dem oben beschriebenen Video dreier junger Leute von TV München, das "beweist", dass es sie gibt, die weiße Frau im Ebersberger Forst.
Urahnin aller "weißen Frauen" ist die ehemalige Herzogin und - zumindest der mittelalterlichen Legende nach -, Kindsmörderin Kunigunde von Orlamünde, die ihre Kinder tötete, weil sie glaubte, diese stünden ihrer neuen Liebe im Wege. Durch die Jahrhunderte wird sie, die weiße, zur "weisen" Frau, die jedem, dem sie erscheint, sein Schicksal verkündet.
Doch so wie die Sage vom Kindsmord hat auch jene von der weißen Frau im Ebersberger Forst keine historische Grundlage, dafür ist die Geschichte im Internet umso präsenter. Im Netz finden sich zuhauf Videos, Musikclips, Dokumentationen, verschwommene Filmchen und Diskussionsforen. "Hallo erst mal", schreibt da zum Beispiel jemand, "an der Straße im Ebersberger Wald steht eine kleine Kapelle, wenn in dieser eine Kerze brennt, sollte man sich in Acht nehmen. . . " Gemeint ist die Hubertuskapelle an der Staatsstraße durch den Forst von Ebersberg nach Schwaberwegen.
Diese Kapelle liegt an einer ehemals pulsierenden Salzhandelsroute. Wann das Gotteshaus errichtet wurde, ist nicht belegt. Kreisheimatpfleger Markus Krammer kennt eine Karte von 1783, die er im Gemeindearchiv Markt Schwabens fand und auf der eine "Capeln" eingetragen ist. Dabei habe es sich aber um einen "Vorläuferbau der heutigen gemauerten Kapelle" gehandelt. Die, so weiß Krammer, wurde erst im Jahr 1859 - "durch fromme Beiträge und die Bemühungen des Forstwarts Kühner" - errichtet. Eine Spukgeschichte ist im Zusammenhang mit der Kapelle nirgends erwähnt. Und wenn da mal Frauen am Straßenrand, wo ein breiter Wanderweg abzweigt, stehen, dann haben sie Nordic-Walking-Stöcke in der Hand und wirken überaus diesseitig.
Irgendwann - es heißt in den Vierzigerjahren des 20. Jahrhunderts, Polizeiakten darüber gibt es nicht - soll bei einem Unfall an dieser Stelle eine Frau getötet und sterbend zurückgelassen worden sein. In einer anderen Version starben bei dem Unfall auch ihre beiden Kinder. In wieder einer anderen Variante war die Frau mit dem Rad unterwegs und lebte noch nach dem Zusammenstoß. Der Unfallverursacher habe die sterbende Frau ins Gebüsch gezogen und mit Zweigen zugedeckt, um seine Tat zu vertuschen. Seither stehe die Frau auf der Suche nach dem Schuldigen am Straßenrand und möchte mitfahren. Wer sie einsteigen lasse, dem geschehe kein Leid. Wer aber weiterfahre, bei dem tauche sie urplötzlich auf dem Rücksitz auf und greife dem Fahrer ins Steuer, so dass dieser einen Unfall mit tödlichen Folgen baue.
Auch in Japan, wo von alters her Geister und Dämonen unterwegs sind, stieß man auf die weiße Frau. Im August 2013 erhielt Ebersbergs Stadtarchivarin Antje Berberich Besuch aus Fernost: Ein japanisches Fernsehteam des Senders NHK kam, um den hiesigen Gruselgeschichten auf den Grund zu gehen. Im Netz waren sie auf einen Aufsatz Berberichs zum Thema aufmerksam geworden, diese bot den Gästen eine standesgemäße Inszenierung. Laienschauspielerin Ulla van Erckelenz-Bock verkleidete sich als Weiße Frau. Zusammen mit Redakteur Yuki Umehara, Kameramann Shintaro Tominaga und Tontechniker Yuki Nakayama brach man auf in den Wald. Wie der Bericht beim japanischen Fernsehpublikum ankam, ist nicht bekannt. Nennenswerten Geistertourismus von dort hat es jedenfalls seither nicht gegeben. Antje Berberich zählt übrigens zu den Autorinnen und Sprecherinnen des unlängst von der Volkshochschule Ebersberg produzierten Hörpfads über die weiße Frau.
Im Laufe der Zeit erfuhr die Geschichte allerlei Ausschmückungen. Besonders fantasiereich ist da die Webseite "Spuk und Jenseitskontakte". Da ist von dem "mysteriösen Licht" in der Kapelle die Rede und von "unerklärlichen Irrlichtern", die direkt über dem Waldboden oder in den Baumkronen auftauchen, sich bewegen und die Farbe wechseln. "Manche Zeugen wollen sogar von so einem Licht regelrecht verfolgt worden sein", heißt es.
Natürliche Erklärungen des Phänomens werden genannt, aber verworfen. Könnten es die Lichter von Autos sein, die auf der B 12 unterwegs seien? Eher nicht. "Wie können sich Autoscheinwerfer in unterschiedlicher Höhe befinden und ihre Farben in sattes Grün oder Blau wechseln?" Sind es Glühwürmchen oder leuchtende Pilze? Da müsse man sich dann allerdings schon fragen, warum es nicht möglich ist, sich diesen Lichtern zu nähern. Auch aus dem Erdreich austretende Gase, die sich eventuell selbst entzünden und eine Art Feuerkugel erzeugen, werden ins Gespräch gebracht. Sicher ist nur eines: Nachts im Wald, da geht mit manch einem die Fantasie durch. "Ist es ein Mythos, oder etwa doch mehr?" Das fragte sich auch der Unterhachinger Filmemacher Manuel Weiss, der mit einem kleinen Team von Schauspielern eine Horrorserie mit dem Titel "Ebersberg" drehte. Erzählt wird die Geschichte eines Internet-Filmemachers (!), der Videos für den Kanal "Parasight" dreht, selber aber natürlich nicht an Gruselgeschichten glaubt - bis er im Ebersberger Forst erlebt, was es heißt, Geister zu jagen. Darsteller sind Florian Günther und Christoph Stoiber. Auch da taucht die Dame nicht wirklich auf, nur der Alarm im Auto geht los. Geister können eben alles, auch Elektronik! Da ist es kein Wunder, dass "Welt der Wunder TV" behauptet, der Ebersberger Forst gehöre zu den zehn gruseligsten Orten Europas. Und dass die Einheimischen nachts den Forst mieden wie der Teufel das Weihwasser.
Sehr ausführlich äußern sich die Autoren von czyslansky.net zum Thema. Diese Seite, so die Eigenwerbung, gebe "Antwort auf alle Fragen, die schon vergebens gestellt und deshalb zu Recht vergessen wurden." Der Autor des zitierten Textes, so heißt es, besitze im Gegensatz zu den meisten anderen, die sich mit der Geschichte befassen, Sachkenntnis. Eigenen Angaben zufolge wohnt er nur zehn Kilometer von der Kapelle entfernt. Von eigenen Sichtungen, so schreibt er, könne er nicht berichten. "Aber der Autor sprach mal mit jemandem, den er kennt; und der wiederum kennt jemanden, dessen Bekannter vor einigen Jahren mal einen Kollegen hatte, dessen Onkel die weiße Frau gesehen haben will. Das ist doch schon mal was, oder?"
Eine Nachfrage bei der Polizeiinspektion Ebersberg ergab, dass kein einziger Hinweis existiert, dass es jemals an dieser Stelle zu einem solchen Unfall - und zu einer Begegnung mit der weißen Frau - gekommen ist. Wenn einer, der gerade einen Unfall hatte, behaupte, die Weiße Frau sei daran schuld, bei dem würden wir sofort einen Alkoholtest machen, antwortete jedenfalls Dirk Anders von der Polizeiinspektion Ebersberg.
Kreisheimatpfleger Markus Krammer, der sich in Band 7 der Reihe "Geschichte und Gegenwart im Landkreis Ebersberg" seriös mit der Materie beschäftigt hat, gibt dann aber doch noch eine mögliche Erklärung für die Entstehung der Sage. Bis in die 1980er Jahre sei es auf der Straße vermehrt zu Unfällen gekommen. 1985 habe ein Auto die Kapelle gerammt, den rechten Pfeiler beschädigt. Danach wurde der Straßenverlauf etwas verlegt und die Kurve entschärft. Und für die geheimnisvollen Lichter im Wald liefert Antje Berberich eine plausible Begründung. "Blätter leuchten im Regen oder reflektieren das Scheinwerferlicht der Straße". Was allerdings ein echter Ghostbuster ist, den wird das nicht überzeugen. Den jüngsten, aber sicherlich nicht letzten Versuch, etwas über die weiße Frau herauszubekommen, startete im August der Spartensender TLC in seiner Sendung "Haunted - Seelen ohne Frieden" mit dem Moderator Sky du Mont, der selber in allerlei Spukgeschichten mitgespielt hat. Die Produktionsfirma, immer wieder auf der Suche nach übernatürlichen Ereignissen, suchte sogar mit einem Aufruf nach Augenzeugen für die Weiße Frau im Forst. Motto: "Die Welt ist voller dunkler Geheimnisse und wenn sie ans Licht kommen, blickt man ins Auge des Bösen. Das Grauen ist mitten unter uns." Ja! Und ist der Geist partout nicht willig, dann muss eben ein wenig Prominenz her.
Vergangenen August stand auch in der Zeitschrift Fernsehwoche unter dem Titel "Gibt es wirklich Botschaften aus dem Jenseits" etwas über die Weiße Frau im Forst zu lesen. Der letzte Satz des Berichts allerdings darf bezweifelt werden. Da heißt es: "Seitdem (wohl seit die Geschichte publik wurde: d. Red.) fahren alle dort besonders vorsichtig." Schön wär's.