SZ-Serie: Kulturspaziergang, Folge 2:Zwischen Idylle und Terror

Das malerische Dörfchen Etzenhausen zog ein lustiges Völkchen von Künstlern an, viele beschlossen dort ihr Leben. Aber auch die Verbrechen der Nazis hinterließen Spuren, die bis heute sichtbar sind

Von Dorothea Friedrich, Dachau

Etzenhausen

Der Dachauer Stadtteil Etzenhausen sieht auch heute noch sehr dörflich aus.

(Foto: Niels P. Jørgensen)

In Lydia Grains Stimme schwingt immer noch leichte Empörung mit, als sie von einem für sie wichtigen Gemälde aus der Zeit der Dachauer Künstlerkolonie erzählt: Leopold von Kalckreuths "Dachauer Leichenzug". Der "zwei mal drei Meter große Riesenschinken" müsste nämlich erstens "Etzenhausener Leichenzug heißen", weil der auf Fotos immer etwas gravitätisch wirkende Graf das ehemals selbständige Dorf als Motiv gewählt hatte. Zweitens hänge das Gemälde in der Kunstsammlung Weimar, "und die haben doch gar keinen Bezug dazu" - ganz im Gegensatz zu der langjährigen Gästeführerin und bekennenden Etzenhauserin. Denn das Gebäude, an dem sich der Leichenzug vorbeischiebt, ist ihr Elternhaus, die Frau in der roten Bluse vor dem Haus ist ihre Urgroßmutter. Was drittens zu einem längeren Diskurs über künstlerische Freiheiten führt, denn "1880 hat niemand eine rote Bluse bei einer Beerdigung getragen". Als das Gemälde 2001 als Leihgabe in der Schlossausstellung "Freilichtmalerei" zu sehen gewesen sei, habe sich ihr Vater "über den gschlamperten Zaun entrüstet, den der Kalckreuth gemalt hat, der Zaun war immer in Ordnung". Mehr oder weniger gute Reproduktionen des Gemäldes gibt es übrigens reichlich in den unendlichen Weiten des World Wide Web.

Was es dort mit Sicherheit nicht gibt, ist Lydia Grains übersprudelnde Erzählfreude, ihre Lust an Geschichten. Das macht diesen coronabedingten Kulturspaziergang per Telefon so unterhaltsam. Schließlich hat in ihrem Elternhaus schon vor Jahren das inzwischen viel zu kleine Gebetshaus der türkisch-islamischen Gemeinde eine Heimat gefunden. "Da kommen freitags mehr als 150 junge Leute, auch aus dem Umland. Da müssen sie die Küche und den Gebetssaal der Frauen ausräumen", erzählt Lydia Grain. Und fügt an, dass es "nur freitags Probleme wegen der Parkerei gibt, ansonsten ist das Verhältnis gut nachbarschaftlich".

Doch wie wurde Etzenhausen zum Künstlerdorf? Da muss Lydia Grain etwas ausholen. Der Ort - älter als die Große Kreisstadt Dachau - sei im ausgehenden 19. Jahrhundert eines der schönsten Dörfer weit und breit gewesen, mit seinen kleinen strohgedeckten Häusern ein ideales Motiv für die in ländliche Idyllen verliebten Maler aus dem nahen München. So habe der Maler Christian Morgenstern, Großvater des Lyrikers Christian Morgenstern, eines Tages das Dorf und den Gasthof Burgmeier entdeckt. Das ehemalige Forsthaus der Wittelsbacher wurde schnell zum Sommersitz eines "lustigen Völkchens". War das Wetter gut, traf man die Malerclique im Freien, war es weniger gut, widmete sie sich im Wirtshaussaal der Aktmalerei. Dazu bedurfte es natürlich eines Modells. Das war oft und gerne "die junge hübsche Bedienung". Lydia Grain lacht laut, als sie von den Nachwirkungen dieser seinerzeit nicht gerade ehrbaren Beschäftigung erzählt. Bei einer Führung mit Etzenhausern habe eine Frau laut gerufen: "Aber mei Oma war des net!" Heute ist der Gasthof bekanntlich nur noch selten geöffnet, zum Beispiel wenn die Crew der Fernsehserie "Dahoam is dahoam" sich dort zum Würstlessen einfindet, denn die nahegelegene, unübersehbare Buchka-Villa ist das Kirchleitner-Haus in diesem TV-Dauerbrenner. In der Buchka-Villa lebten die erfolgreiche Malerin Emmy Buchka-Lenbach und ihr Mann Carl Buchka. Beide sind auf dem Friedhof an der - leider meist geschlossenen - Kirche Sankt Laurentius beerdigt. Hier haben auch die Künstler Ludwig von Herterich, Maria Keller-Hermann, Wilhelm Velten und Gustav Keller ihre Grabstätten. Mit einem liebevollen Schmunzeln in der Stimme sagt Lydia Grain: "Von Herterich hat das schönste Grab. Er kann nämlich direkt auf seine Villa schauen und sieht, was dort passiert." Von Herterich bewohnte eine der markantesten Künstlervillen weit und breit: Gebaut wurde das säulenverzierte Domizil nach dem Vorbild des alten Welschhofs aus dem 16. Jahrhundert, einem ortsprägenden Gebäude.

Für Lyda Grain sind Friedhöfe Orte, "die über den Dingen stehen" und an denen man selbst zur Ruhe kommen kann. Das gilt für sie auch für den Leitenberg in Etzenhausen mit seiner erschütternden Geschichte. Mehr als 7400 von den NS-Verbrechern im Konzentrationslager Dachau und weiteren KZs ermordete Häftlinge sind hier begraben. Als 1945 das Krematorium im damaligen KZ Dachau nicht mehr betrieben werden konnte, zwangen die NS-Schergen Gefangene, die Leichen ihrer Mithäftlinge auf den Leitenberg zu transportieren und in Massengräbern zu verscharren. Nach der Befreiung am 30. April 1945 mussten NSDAP-Mitglieder und Dachauer Bauern auf Befehl der amerikanischen Militärregierung etwa 2000 Tote aus dem Lager ebenfalls auf den Leitenberg bringen. Wer heute diese Bilder in einer Dokumentation sieht, kann nachfühlen, wie tief sie sich in junge Menschen einbrennen, die diese Leichenzüge mit ansehen mussten. "Mein Vater konnte erst als Achtzigjähriger darüber sprechen", sagt Lydia Grain. In den Nachkriegsjahren wurde die Gräberstätte in einen würdevollen KZ-Ehrenfriedhof umgestaltet und ist seither ein stiller Ort des Gedenkens. "Leider kommt hier kaum jemand von den vielen Gedenkstättenbesuchern hin", bedauert Lydia Grain. "Es ist traurig, dass das so ist", sagt sie. Denn für sie ist diese "Oase der Ruhe" ein fast mystischer Ort, an dem die Natur "macht, was sie will und eine große Trösterin ist". So kann sie sich am "wunderbaren Mischwald mit den unwahrscheinlich vielen, seltenen Vogelarten" erfreuen. Sie kann voller Begeisterung über geologische Details berichten, wie solche, dass "die Steilwand beim Radweg runter nach Prittlbach" eine Abbruchkante des tertiären Hügellandes zur Amperaue ist, wie ein Geologe geschrieben hat. Und sie weiß, dass viele Pflanzen nur hier gedeihen, wie etwa Heide- und Sichelnelke oder der Wiesensalbei. Oder dass hier 60 bis 70 Wildbienenarten leben, "die alle auf der Roten Liste" stehen. So ist für die Etzenhauserin Lydia Grain ihr Heimatort ein Kultur- und Naturdorf von seltener Güte und Schönheit, das es zu hegen und zu pflegen gilt und das auf jeden Fall mehr als einen Kulturspaziergang lohnt.

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