SZ-Serie: "Geschichten aus dem Dachauer Land", Folge 9:Wo Erna, Loni und Biene muhen

Sulzrain war weithin berühmt für seinen Kleintiermarkt - bis 2003 die Geflügelpest ausbrach. Auch die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe ist zurückgegangen. Trotzdem gibt es in dem kleinen Weiler immer noch fast 200 Kühe

Von Christiane Bracht, Sulzrain

Früher donnerte hier der Verkehr durch. Jeden Morgen Auto an Auto quer durch Sulzrain, abends das gleiche. Wer von Haimhausen nach Röhrmoos oder Dachau wollte, musste die kleine Bauernschaft passieren. Doch seit die Umgehungsstraße gebaut ist, ist Ruhe eingekehrt. Das war 1990. Heute kann man problemlos zu Fuß auf der Taxbergstraße laufen, ohne Angst haben zu müssen, dass ein rasanter Fahrer oder gar ein Lastwagen einen überrollt. Autos kommen nur noch selten vorbei. Überhaupt weit und breit ist niemand zu sehen, nicht in den bunten Gärten und auch nicht in den Höfen. Es ist Mittag, kurz vor zwölf: Die Frauen stehen am Herd und kochen, die Männer arbeiten im Stall oder sind auf dem Feld bei der Ernte. Die Mahd muss schließlich noch eingebracht werden. So war es schon immer in Sulzrain, so ist es auch heute noch.

Das Dorf bestand einmal aus neun landwirtschaftlichen Betrieben, die sich um die kleine Kirche Sankt Nikolaus auf einem Hügel herum gruppieren. Doch das Bauernsterben hat auch vor Sulzrain nicht Halt gemacht. Nach der Flurbereinigung in den Siebzigerjahren hat der erste aufgegeben, später verpachteten auch andere ihre Höfe. Meist weil der Bauer starb und es keine Nachfolger gab. Heute sind nur noch fünf große Höfe in Betrieb, einer hat sich auf die Bullenmast spezialisiert, die übrigen sind Milchviehbetriebe. Und so leben in dem kleinen Ort bei weitem mehr Kühe als Menschen. Gerade mal 57 Einwohner hat Sulzrain, aber fast 200 Kühe stehen in den Ställen. Die Türen sind meist offen, man hört Erna, Loni, Biene und wie sie alle heißen muhen, schnauben oder stampfen. Eine charakteristische Prise Landduft weht gelegentlich über die Straße.

Früher standen die Tiere einmal auf der Weide, aber die Zeiten sind lange vorbei. "Wir müssten sie über die Hauptverkehrsstraße treiben", erklärt die Bäuerin Maria Zigldrum. Das sei heute aber zu gefährlich, für die Autofahrer und für die Kühe natürlich auch. Außerdem scheuen die Landwirte die aufwendige Mehrarbeit. Weiden bedeutet, Wiesen einzäunen und schauen, dass keine Lücke da ist, durch die die Tiere entfleuchen können.

Der Zuchtwart kommt vorbei, grüßt freundlich. "Nummer zehn hat einen Buckel gemacht, aber der unsre ist Werteklasse eins", erzählt ihm Zigldrum im Vorbeigehen. Der Fremde runzelt verwirrt die Stirn. "Wir haben gestern einen neuen Zuchtbullen ersteigert", erklärt ihr Mann, Peter Zigldrum. Die beiden haben 35 Rindviecher im Stall und damit einen eher kleinen Betrieb. Andere im Dorf kümmern sich um doppelt so viele Kühe. Aber das Paar hat ja auch noch die Wirtschaft.

Der Großvater von Peter Zigldrum hat sie vor etwa 140 Jahren eröffnet. Zwei Fremdenzimmer und Ställe gehörten dazu - das war damals Vorschrift für eine Tafernwirtschaft. Die Bauern aus dem Ort trafen sich hier, um Karten zu spielen, zu ratschen und natürlich Bier zu trinken, während Mägde und Knechte die harte Arbeit verrichteten. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Angestellte gibt es schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Die Bauern müssen nun selbst Hand anlegen und so treffen sie sich nur noch am Samstagabend in der Wirtschaft auf ein Bier. Das alte Haus, in dem Johann Zigldrum 1873 die Zechstube eingerichtet hatte, steht nicht mehr. "Die Wände waren feucht und eine Heizung gab es auch nicht", erklärt Maria Zigldrum. Heute wird an der Stelle neu gebaut, ein Kran steht vor dem Haus, innen wird fleißig gewerkelt. Die Wirtsstube ist schon seit Mitte der Neunzigerjahre im Keller von Zigldrums Wohnhaus. Etwas ungewöhnlich für ein Gasthaus. Aber Fremde kommen hier ohnehin nicht vorbei - zumindest nicht mehr.

Denn der Kleintiermarkt, für den Sulzrain weithin bekannt war, ist auch schon seit einiger Zeit Geschichte. "Er war eine echte Attraktion", sagt Zigldrum, die noch heute darauf angesprochen wird. Jeden Sonntag kamen an die 400 Leute in das kleine Dorf an der Amper, begutachteten Gänse, Enten und Hühner, ob sie vielleicht zu einem schönen Braten taugen. Auch Hähne gab es für die eigene Zucht. Andere erfreuten sich an den lustigen Singvögeln in der Voliere, die auf dem Hof von Hans Hagen stand. Kanarienvögel und Wellensittiche konnte man dort kaufen, Futter ebenfalls. Die Stände waren allesamt umlagert, egal ob Katzen, Hasen oder Hamster angeboten wurden. Sogar ein Gemüsehändler aus Dachau baute seine Waren auf dem Markt auf. Und damit die Leute nicht Durst leiden mussten, schenkte Hagen Bier aus und machte so nebenbei ein ganz gutes Geschäft. Doch dann starb Hagen, seine Frau und seine Tochter führten den Markt zunächst weiter. Aber als sich 2003 die Geflügelpest ausbreitete, wurde auch der Kleintiermarkt in Sulzrain abgesagt. Als das Veterinäramt die Restriktionen später aufhob, entschieden sich die beiden Frauen, den Markt nicht wieder aufleben zu lassen. Keine Fremden mehr, die alle Höfe und Straßen zuparkten, kein Lärm, kein Remmidemmi. Manch einer im Ort empfand das als wohltuend. Man war wieder unter sich. Ruhe kehrte ein.

Das größte Spektakel ist jetzt, wenn der Pfarrer aus Ampermoching kommt und die kleine Dorfkirche aufsperrt, um eine Messe zu halten. Zweimal im Jahr passiert das: zu Kirchweih und zum Patrozinium, am 6. Dezember. Das Gotteshaus ist der ganze Stolz der Sulzrainer. Es zeugt von einer langen Geschichte. 829 wird die Siedlung das erste Mal urkundlich erwähnt. Sulz bedeutet übrigens versumpfter Boden. Die Kirche muss 1315 schon gestanden haben, allerdings nicht so, wie wir sie heute kennen. Der Bau ist in der Spätgotik, also im 15. oder 16. Jahrhundert errichtet worden, der Turm sogar noch später. Seine Verzierungen sind barock. Ursprünglich hatte er wohl auch eine Zwiebelhaube, doch die wurde 1878 bei einem heftigen Sturm heruntergerissen und zerstört, sagt der Heimatforscher Georg Werner, der sich eingehend mit der Geschichte befasst hat. Seitdem hat das Türmchen einen sogenannten Spitzhelm. Überraschend pittoresk ist vor allem das Innere von Sankt Nikolaus: Neben mehreren Figuren an den Seitenwänden und einem Tragekreuz gibt es dort einen reich verzierten Rokokoaltar, den die Dachauer Künstler Nikolaus Prugger und Franz Mayr 1749 gefertigt haben. Im Zentrum ist der Heilige Nikolaus dargestellt mit drei goldenen Kugeln in er Hand und Mitra auf dem Kopf, darüber ein Gemälde von Gottvater.

Steckbrief

Ort: Sulzrain

Gemeinde: Hebertshausen

Einwohner: 57

Erstmals urkundlich erwähnt wurde der Ort 829 als "Sulzraini".

Sehenswürdigkeiten: Die spätgotische Kirche Sankt Nikolaus mit dem reich verzierten Rokokoaltar von Nikolaus Prugger und Franz Mayr. Sie ist 1315 in der Konradinischen Matrikel zum ersten mal genannt und heute noch das Herz des Ortes.

Wichtigste Einrichtungen: Wirtsstube im Keller von Zigldrums, ein Bus, der die Schulkinder zum Unterricht bringt und wieder zurück. Sonst hält er nur zweimal am Tag.

Gerade mal fünf Bänke haben Platz in der Kirche. Das Harmonium hinten sieht zwar schön aus, aber spielen kann es keiner mehr. Für die musikalische Begleitung der Messe muss ein Keyboard in die Kirche gestellt werden, erzählt Zigldrum. Den Strom dafür spendiert der Nachbar, denn in der Kirche gibt es keinen. Deshalb müssen die Glocken auch wie anno dazumal per Hand geläutet werden. Zwei alte Seile hängen in einer Nische herunter.

Im Zuge der Säkularisation sollte die kleine Kirche 1803 abgerissen werden, doch die Sulzrainer stemmten sich gegen den Beschluss. Sie wollten ihr Gotteshaus behalten und verpflichteten sich dazu, Reparaturen und Pflege selbst zu übernehmen. Erst in den vergangenen zwei Jahren ist das ländliche Kleinod frisch geweißelt worden, außen und innen auch, Turmdach und Fenster wurden ebenfalls saniert. Leider kann man nicht einfach so hineingehen. Die Kirche ist abgesperrt. Die Sulzrainer haben Angst vor Diebstählen. "Ein Engel ist schon mal weggekommen", sagt Zigldrum. Deshalb hat man die Figuren sogar mit Vorhängeschlössern angekettet, und die Mesnerin Resi Zigldrum wacht über die Schlüssel.

Wie Maria Zigldrum ist auch sie nicht gebürtig aus dem Ort, sondern hat in die große Familie eingeheiratet. "Anfangs war's schon komisch", sagt Maria Zigldrum. Doch jetzt leben beide schon sehr lange hier und fühlen sich von der Dorfgemeinschaft angenommen. "Der Zusammenhalt ist gut", sagt Resi Zigldrum. Man helfe sich gegenseitig, vor allem im Herbst an der Häckselmaschine. Da müssen dann alle mit anpacken. Natürlich wird dabei auch gerne mal geratscht. Aber ein Dorffest gibt es schon lange nicht mehr, sagen die Frauen. Gefeiert wird jetzt eben in Ampermoching, wo die meisten sich auch in den Vereinen engagieren. Die Sulzrainer selbst sitzen eigentlich nur beim Weißwurstessen nach der Patroziniums-Messe im Wirtshaus zusammen, so jedenfalls erzählt es die Wirtin. Kaffeeklatsch oder so etwas gebe es nicht, sagt sie.

Manchmal ziehen auch Auswärtige ins Dorf. "Ich wollte meinen Traum vom Leben auf dem Land hier verwirklichen", erzählt Vivienne Klimke. Zehn Jahre hat sie mit ihrem Mann auf einem der Höfe gewohnt, war angetan von den hübschen bunten Bauerngärten, dem freien Blick in die Natur, der Ruhe und dem schönen alten Haus. Doch dann wurde die Biogasanlage gebaut und sie lernte die andere Seite der Landwirtschaft kennen, die betriebsame. Den ganzen Tag fuhren Bulldogs auf dem Hof herum, sie hatte ständig die Dämpfe vom Güllewagen in der Nase und hörte die Maschinen. "Es war ein sehr ländliches Leben mit allen Vor- und Nachteilen", sagt sie heute, da die Idylle irgendwie einen Knacks bekommen hat. Zumal Sulzrain offenbar in der Einflugschneise des Münchner Flughafens liegt. "Bei Ostwind sind die Flugzeuge ab 22 Uhr im Minutentakt hereingekommen, sodass man nicht mehr auf der Terrasse sitzen bleiben konnte. Und sonntags morgens beim Frühstück dasselbe", sagt sie. Doch insgesamt hat sie gute Erinnerungen an ihre Zeit in Sulzrain.

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