SZ-Serie: Geschichten aus dem Dachauer Land, Folge 16:In tiefer Verbundenheit

Die Geschichte von Lauterbach ist auch eine über die enge Beziehung des Adelsgeschlechts von Hundt mit den heute 800 Einwohnern. Graf Georg sagt: "Ich glaube nicht, dass die Leute zum Schloss aufschauen. Sie lieben und verbinden es mit ihrer Heimat"

Von Petra Neumaier, Lauterbach

Das Tor steht weit offen - trotzdem wagt man sich kaum, den Hügel bis zu seinem Ende hinauf und durch das enge Tor zu fahren. Weil man sich wie ein Eindringling fühlt in einem Refugium, in dem die Zeit still zu stehen scheint. Vorsichtig, als könne man etwas kaputt machen, umrundet man das flache Becken des Springbrunnens. Parkt, so leise wie nur auf dem knirschenden Kies möglich, dicht an der Mauer. Hoch ragt die schlichte Fassade des Schlosses in den Himmel, mitsamt seinen eckigen und runden Türmen. Seltsam wirkt die moderne Klingelanlage mit Kamera neben der alten, geschnitzten Holztür. Hinter der sind jetzt dynamisch hinunterspringende Füße auf den Stufen zu hören. Über Lauterbach zu schreiben, ohne das Schloss zu besuchen und seinen legeren, und so gar nicht aristokratisch-steifen Besitzer Graf Georg von Hundt zu befragen, ist unmöglich. Zu eng geknüpft sind die Maschen des Orts mit der Geschichte des Stammsitzes des ältesten im Landkreis ansässigen Adelsgeschlechts.

Dabei ist das Schloss eigentlich nur von der ewig rauschenden Autobahn aus zu sehen. Hohe Bäume verstecken es in Lauterbach selbst. So gut sogar, dass es Einwohner gibt, die auch nach Jahren nichts davon wissen. "Ach, das gehört zu Lauterbach", hat erst kürzlich eine Frau erstaunt zu dem amüsierten Grafen gesagt. Seine Bedeutung als größter Arbeitgeber im Dorf und Versorger von Holz, sowie Gemüse in der eigenen Gärtnerei, hat das Schloss ja längst verloren. Heute ist es ein Schmuckstück, auf das die einen stolz, andere gleichmütig und wieder andere mit einem Quäntchen Argwohn blicken.

Um das Jahr 900 wird der Ort Hluttrinpah genannt

Deshalb beginnt man auch erst einmal zu den Füßen des Anwesens. In dem Ort, der - geht man von den ersten urkundlichen Erwähnungen aus - weit älter ist, als das über ihm wachende Refugium. Um 900 wird er Hluttrinpah genannt. Erst um 1250 findet das Schloss in die Annalen durch das Geschlecht der Dachauer. Sie verkauften es rund 200 Jahre später an die "Hunt zu Dorf". 1550 schließlich ließ Georg Hundt zu Lautterbach und Valkenstein die verfallene Ruine neu entstehen. Und das ist in etwa zur gleichen Zeit, als in Nördlingen der Stammbaum einer ganz anderen, bürgerlichen Familie beginnt: Die des "vorzüglichen Bürgergeschlechts Haas", wie es unter dem Wappen der Familie geschrieben steht.

Johann Haas, der Lauterbacher Wirt in fünfter Generation, ist stolz darauf. Wohl auch deshalb hat er es, in Glas gerahmt, in die Mitte seiner schmucken Wirtsstube gehängt. Seit - wie lange genau weiß er leider nicht mehr, aber - "ewigen Zeiten" ist sein Haus Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens. Wo Neuigkeiten ausgetauscht, gemeinsam gefeiert und auch mal getrauert wird. Und wo jeder jeden kennt und der Johann Haas alle - so war es jedenfalls früher, erinnert sich der 75-Jährige gern. "Heit kennst fast goar niamand mehr, weil die Einheimischn nimma furtgenga", sagt er, und dass am Stammtisch früher 40 und heut nur noch 20 Leut' sitzen. Gerade einmal 17 Jahre jung war der Metzger, als der hilfsbereite Vater einem Nachbarn zu Hand ging und tödlich verletzt wurde. Mit der Mutter hat er Hof und Wirtschaft übernehmen müssen - ein Bild vom alten Gasthaus hängt an der Wand. 1968 rissen sie es ab, mitsamt dem Braukeller, wo die Vorfahren einst das Bier für die Lauterbacher brauten. "Dunkles Bier", betont Haas. "Erst die Vertriebenen brachten das Helle mit."

"Pullover und Schuhe bleiben immer an"

Die Vertriebenen. Viele kamen, viele gingen, einige blieben. Auch oben im Schloss waren sie untergebracht - bis zu 120 Personen und in den großen Zimmern oft nur durch Laken getrennt. In ihrer Not verwendeten sie Möbel und das Parkett als Heizmaterial. Der zweifache Familienvater, der im Ort mehrere Namen hat (Graf Schorschi, Graf Hundt, Herr von Hundt oder nur Schorsch) kann es nicht verdenken. Auch ihn friert es heute noch zuweilen in seinen schönen, aber schwer zu heizenden hohen Räumen. "Pullover und Schuhe bleiben immer an", sagt der 46-jährige Chirurg und Medical Director eines Frankfurter Pharmakonzerns, der selbst im kalten Schloss Unterweikertshofen aufwuchs.

Bis in die 60er Jahre waren die Flüchtlinge (zu einigen hat Georg von Hundt heute noch Kontakt) in Lauterbach hier untergebracht. Als sein Vater das Schloss wieder übernahm, war es eine Ruine. Es gab keine Fenster, kein fließendes und schon gar kein warmes Wasser - und keinen Strom. Mit jenem begann die lange Sanierung und mit ihm auch der erste Fernseher im Ort. "Jeden Tag kamen die Leute rauf zum Schauen", erfuhr der Graf erst kürzlich beim Tag des offenen Denkmals. Und jetzt wundert es ihn auch nicht mehr, dass manche alte Lauterbacher das Schloss fast besser kennen als er selbst. Abgesehen vom Fernseher gab es hier noch die Gärtnerei. Gemüse und Salate konnte man kaufen und so mancher Pfirsich wurde im Hof vom Baum stibitzt. Graf von Hundt, der mit jungen 19 Jahren das in Mietwohnungen umgebaute Schloss übernahm, fand die Lausbuben-Geschichten so nett, dass er gleich einen neuen pflanzte.

Ein kleiner Dorfladen für die Grundnahrungsmittel

Was eigentlich gar nicht nötig ist, denn längst sorgt ein kleiner Dorfladen für die Grundnahrungsmittel. Früher war er dort, wo jetzt die Sparkasse ist - und der Friseur, bei dem man sogar online Termine ausmachen kann. Seit 1989 ist er schräg gegenüber. "Und Gold wert", schwärmt der Graf. Das beweist auch die ständig auf und zu gehende automatische Schiebetür. Ein Kommen und Gehen ist an diesem Nachmittag, dass man kaum mit der Verkäuferin, einen Satz zu Ende sprechen kann. 21 Jahre arbeitet Annemarie Widmann schon bei dem Betreiber, einer Bäckerei aus Odelzhausen. Seit ein paar Jahren ist sie hier und mit den meisten per Du - "das geht schnell in Lauterbach", erzählt sie und dass die Leute sehr nett und heilfroh sind, weil sie am Ort einkaufen können. Deshalb bräuchte sie dringend Hilfe. "Es ist viel zu tun", sagt sie und zählt die unterschiedlichen Tätigkeiten auf. "Aber es macht unheimlich viel Spaß und ist nie langweilig."

Arm wie die Lauterbacher waren, stachen sie auch Torf

Die meisten Lauterbacher gehen jedoch auswärts arbeiten. Das war früher anders. Wenn nicht in der eigenen Landwirtschaft, so verdingten sich viele im Schloss: In der Gärtnerei, in den Forsten. Arm wie die Lauterbacher waren, stachen sie auch den Torf, um im Winter heizen zu können. Darum gab es trotz aller Verbundenheit auch Trennendes zu den wohlhabenden Schlossherren. Die Risse versuchten jene hier und da mit Unterstützungen von sozialen Projekten zu kitten. So stifteten die von Hundts das kleine Kloster neben der Kirche, wo die Englischen Fräuleins von 1870 bis zur Jahrhundertwende eine Mädchenschule betrieben. Heute haben die Burschen hier ihren "Kraftraum" - "und in den oberen Zimmern züchtet die Gemeinde den Hausschwamm", bemerkt Georg von Hundt augenzwinkernd, selbst ehemaliger Gemeinderat. Auch er setzt, wann immer er kann, die soziale Tradition fort. Schenkt Grund für die Erweiterung des Sportplatzes oder den Bau des Radweges. Unterstützt die neue Tischtennishalle oder die Renovierung der Alten Schule. Dank eines gegründeten Vereins wurde das historische Gebäude erst im vergangenen Jahr vor dem Abriss bewahrt und mit viel Eigenarbeit in ein kulturelles Kleinod verwandelt.

Ein harter Kern hält zusammen

Das Dorf hält noch zusammen. Zumindest ein harter Kern. Zwar ist die Gemeinschaft in mehrere Vereine gesplittet: Feuerwehr, Tennis- und Tischtennis, Gartenbau, Veteranen und Schützen. Beim jährlichen Maibaumaufstellen sitzen aber alle an einem Tisch. "Und wenn es was zu tun gibt, sind immer welche da", erzählt auch der Mesner Mathias Pellner. Seit 1988 kümmert sich der ehemalige Flüchtling ehrenamtlich um die Kirche. Malert hier, verputzt dort - ständig ist ja was zu tun. Und er koordiniert und arbeitet in einer rührigen Rentnertruppe, die zum Beispiel die Drainage um die Kirche legte. Erst 2011 balancierten die Herren sogar auf dem Gerüst des Kirchenturms, um ihn ehrenamtlich auszubessern und neu zu streichen. "Heut dat i des nimma schaffn", sagt der 84-jährige, drahtige und immer noch sehr gut aussehende Mann, der sein Amt gerne im nächsten Jahr abgeben möchte.

SZ-Serie: Geschichten aus dem Dachauer Land, Folge 16: Das Schloss sieht man als Autofahrer von der Straße aus besser als im Ort.

Das Schloss sieht man als Autofahrer von der Straße aus besser als im Ort.

(Foto: Toni Heigl)

Den kleinen Kirchenschlüssel, der die Tür zum Altarraum öffnet, hat er immer dabei. Der große für das Hauptportal, ist mit seinen fast 20 Zentimetern Länge wahrlich äußerst unhandlich. In dem wunderschönen und außergewöhnlich mit weißem Stuck ausgestatteten Kirchlein (erbaut vor 1450) ist überhaupt vieles sehr antik: Die Schlösser, die Möbel, die Messgewänder und ihre Bügel, die Tür zum Chorraum, in der sich ein "Johann Zacherl" 1861 verewigte. Und natürlich das herrliche Glasfenster, das zu den bedeutendsten in Oberbayern zählt - aber leider von dem hohen Altar verdeckt wird. Der Boden darunter ist hohl. Hier befindet sich die Gruft der Familie Hundt. Der Zugang zu den Gewölben ist für Georg von Hundt immer noch ein ungelöstes Geheimnis. Das er zu gern lüften möchte. Denn die Gedenk- und Grabsteine an den Wänden der Kirche (darunter auch das Epitaph von Wiguläus von Hundt (1514 bis 1588), der durch sein "Bayrisch Stammen-Buch" ein bis heute geschichtlich sehr bedeutendes Werk geschrieben hat und der "der einzige in der Familie ist, der mal was Bedeutendes gemacht hat"), sind ja nur ein kleiner Ausschnitt der Ahnenreihe. Und stumme Zeugen der auch ortsgebundenen Geschichte.

Von der Kindersterblichkeit blieb eben auch der Adel nicht verschont

Draußen sind weitere Gedenksteine eingemauert, die von niedrigen geschmiedeten Zäunchen abgeschirmt werden. Auch sie erzählen Geschichten in ihren blassen, von Regen und Wind abgeschmirgelten Buchstaben. Wie die von August Graf zu Hundt, geb. 1816, dem Major, dem "ein preußischer Granatsplitter" 1866 das Leben kostete. Oder aber die von Sebastian, der 1815 nur wenige Tage leben durfte. Zwei weiteren Kindern wird daneben gedacht - von der Kindersterblichkeit blieb eben auch der Adel nicht verschont. Hoffend auf Nachkommen legten ihre Eltern den Kreuzweg an, der in einem Bogen unter einer 300 Jahre alten Eichenallee in den Ort führt.

Die Lauterbacher lieben das Schloss und verbinden es mit ihrer Heimat

Nahe dem modernen Feuerwehrgebäude kommt man raus - Lauterbach hat eben nahezu alles, was man so braucht. Auch gute Busverbindungen und sogar einen großen Baustoffhandel. "Sehr praktisch, wenn man ein altes Schloss hat", sagt der Graf. Die Sanierung der Schlosskapelle hat er gerade erst abgeschlossen. Total verfallen war sie, jetzt ist der schlichte Raum mit seinem Altar sehr stimmig - und dank Wandheizung sogar wärmer als das Haupthaus. Perfekt für Taufen und Hochzeiten. Erst einmal werden die Glocken am kommenden Wochenende mit einem Gottesdienst geweiht. Dann gibt es hier oben auch noch ein kleines Fest für die Lauterbacher.

Georg von Hundt, der seit zehn Jahren das Schloss mit seiner Familie bewohnt, schaut aus dem Sprossenfenster. Linkerhand breitet sich die Schotterebene aus und öffnet einen herrlichen Blick auf die Alpenkette - und vor ihm lugen zwischen dem Laub der Bäume die roten Dächer von Lauterbach. Auf seine Bewohner schaut er dennoch nicht herab. "Und ich glaube auch nicht, dass die Leute zum Schloss aufschauen", sagt er. "Sie lieben und verbinden es mit ihrer Heimat. Und darauf bin ich stolz."

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