SZ-Schulratgeber:"Eigentlich sollten Kinder keine Depressionen haben"

SZ-Schulratgeber: Den Spaß an der Schule nicht zu verlieren, ist wichtig - der Meinung ist nicht nur eine ehemalige Elternbeirätin aus Dachau.

Den Spaß an der Schule nicht zu verlieren, ist wichtig - der Meinung ist nicht nur eine ehemalige Elternbeirätin aus Dachau.

(Foto: Niels P. Joergensen)

Schulangst, Hoffnungslosigkeit, Depression: Im Landkreis Dachau gibt es immer häufiger psychische Auffälligkeiten bei Schülern. Vor allem das Grundschulabitur zum Übertritt an Gymnasium und Realschule setzt Kinder stark unter Druck.

Von Daniela Gorgs, Dachau

Wenn man Piroska Kneuer zum Thema Übertrittsquote befragt, fängt sie an zu lachen. Vor Freude, den "Wahnsinn", wie sie es nennt, hinter sich zu haben. Die zweifache Mutter war sieben Jahre lang Sprecherin des gemeinsamen Elternbeirates der Dachauer Grund- und Mittelschulen. Sie kann viel erzählen, über den Leistungsdruck in der Grundschule, über Väter, die schon am ersten Elternabend der Lehrerin unmissverständlich klarmachen, dass ihr Kind in vier Jahren aufs Gymnasium kommt. Oder über Mütter, die sich auf dem Schulhof austauschen, um herauszufinden, wie der eigene Nachwuchs im Klassenvergleich dasteht. Wer besser ist im Rechnen, im Lesen und Schreiben, im Heimat- und Sachkundeunterricht. Darauf kommt es an.

In Mathematik, Deutsch und HSU erhalten die Kinder gegen Ende der vierten Grundschulklasse je eine Note. Die zählt man zusammen und teilt sie durch drei. In Bayern gilt: Wenn ein Schnitt von 2,33 oder weniger herauskommt, darf das Kind auf das Gymnasium, bei 2,66 auf die Realschule. Ein Schnitt von 3,0 gilt bereits als unterirdisch, das Kind kommt auf die Mittelschule. "Das muss man sich mal vorstellen", sagt Piroska Kneuer. 3,0 ist befriedigend. Und doch nicht ausreichend für die Realschule. Kneuers Tochter hatte den "unterirdischen" Schnitt und geht jetzt auf die Hauptschule, ja, die Hauptschule.

"Eigentlich sollten Kinder keine Depressionen haben"

Die ehemalige Elternbeirätin benutzt nicht die neue bayerische Verkleidung "Mittelschule", die dieser Schulform mehr Ansehen verschaffen soll, sondern den herkömmlichen Begriff. Piroska Kneuer hat zwei Kinder. Ihr Sohn hat es von alleine aufs Gymnasium geschafft. Er ist mehr der kognitive Typ, berichtet sie. Die Tochter, ganz die Sportlerin. Ihre Kinder haben verschiedene Stärken. Die Mutter hat gleich gemerkt, dass sich die Tochter mit der Schule schwer tut. Sie hat das akzeptiert und ihre Kinder nie miteinander verglichen. Piroska Kneuer ist wichtig: Ihre Kinder sollen sich selber wertschätzen können, die Lernfreude und den Spaß an der Schule nicht verlieren, und vor allem, einfach leben dürfen. Ohne drangsaliert zu werden und mit Depressionen zu enden.

Eine Schulpsychologin, die im Landkreis Dachau berät, berichtet von einer stetigen Zunahme von psychischen Auffälligkeiten. Schulangst, Misserfolge, Verlust des Selbstkonzepts, Hoffnungslosigkeit. Hat sie alles schon bei Schülern erlebt. Und Depressionen. "Eigentlich sollten Kinder keine Depressionen haben", sagt sie. Oft erhält die Schulpsychologin Anrufe von verzweifelten Müttern, weil das Kind den Probeunterricht an der Realschule nicht geschafft hat. Rausselektiert, in der Mittelschule gelandet, die immer weniger zählt. Die Eltern fürchten um die Zukunftschancen ihrer Kinder. Der Druck, sagt die Psychologin, ist extrem. Der Übertritt setzt den Grundschülern zu. Sie würde sich ein anderes System wünschen, eines, in dem die Schüler dem eigenen Tempo gemäß lernen können. Manche Kinder brauchen einfach länger, für sie kommt die Entscheidung für eine der drei weiterführenden Schularten nach der vierten Klasse zu früh.

Am Ende zählt das ganze Bild vom Kind

Der Leiter der Grundschule in Karlsfeld, Roland Karl, würde die Schüler gern ein, zwei Jahre länger bei sich behalten. "Man kann bei einem zehnjährigen Kind nicht vorhersagen, ob es das Abitur schafft." Nach der sechsten Klasse wäre das vielleicht einfacher. Der Karlsfelder Schulleiter beobachtet immer wieder, dass Kinder gezielt mit Nachhilfestunden auf den Übertritt vorbereitet werden. Die Kinder schaffen ihn dann zwar meist auch, aber sie arbeiten immer am Anschlag und haben kaum mehr Potenzial, zuzulegen. Damit sind sie laut Karl oft schon zum Scheitern verurteilt. Es heißt immer, fährt er fort, unser Schulsystem ist so durchlässig. Aber das gilt vor allem für den Weg nach unten. Das zeigt die Statistik ganz klar, sagt Karl. Und das wissen auch die Eltern und beginnen aus großer Sorge kurz vor dem Übertrittszeugnis um jeden Punkt zu feilschen.

Jutta Gerstl, Lehrerin an der Klosterschule Dachau und Vorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes im Landkreis, erlebt das auch immer wieder. Als ob der eine Punkt schon das Abitur versauen könnte! "Aber wir wollen ja nicht blockieren", sagt Jutta Gerstl, "und gehen die Probe noch einmal durch."

Am liebsten bindet sie dabei die Kinder mit ein, fragt, ob sie etwas finden, was die Lehrerin übersehen hat. Oft sind Fragen in Proben nicht ganz eindeutig gestellt. "Dann geben wir halt den einen Punkt". Allerdings: Am Ende zählt das ganze Bild vom Kind. Und: Der Lehrer hat die pädagogische Freiheit, eine verpatzte Probe auszugleichen, vor allem wenn man sieht, dass der Schüler ganz nah dran war. Oft erlebt Jutta Gerstl auch die Kinder als übereifrig. "Sie wollen gut sein."

Die Wahl der Schullaufbahn setzt Eltern und Kinder gleichermaßen unter Druck. In vielen Gesprächen versucht Jutta Gerstl, Eltern zu beruhigen und Perspektiven aufzuzeigen, wenn es einmal nicht reicht für den "Königsweg" Gymnasium. Wie dankbar sind Grundschullehrer über Mütter wie Piroska Kneuer, die den Lehrern vertrauen und die weiterführende Schule nach den Stärken ihrer Kinder wählen.

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