SZ-Podiumsdiskussion:Blickwechsel

"Oft heißt es, Jugendliche sind Verbrecher." Experten und Publikum fordern beim SZ-Forum mehr Mitbestimmung und Raum für die Heranwachsenden in den Landkreisgemeinden. Von Seiten der Erwachsenen mangelt es häufig nicht nur an Respekt.

Anna Schultes

Die Schere zwischen jungen Menschen, die durch das straffe Bildungssystem kommen und ihren Platz in der Gesellschaft finden, und denjenigen, die auf ihrem Weg abgehängt werden, wird größer. Der Leistungsdruck steigt ständig, die persönlichen Freiräume schwinden. "Mit den jungen Menschen muss mehr gekämpft werden", fordert deshalb Jugendarbeiter Albert Schröttle. "Immer mehr werden das Rennen sonst verlieren." Was folgt, ist Resignation. Und die kann sich in Gewalt entladen.

SZ-Podiumsdiskussion: Auf dem SZ-Podium im Ludwig-Thoma-Haus: SZ-Redakteur Helmut Zeller, Matthias Neulinger als Sprecher der Jugend, Sozialpädagoge Albert Schröttle, Diana Ziegleder vom Deutschen Jugendinstitut in München, Polizeioberrat Thomas Rauscher, Leiter der Dachauer Polizeiinspektion.

Auf dem SZ-Podium im Ludwig-Thoma-Haus: SZ-Redakteur Helmut Zeller, Matthias Neulinger als Sprecher der Jugend, Sozialpädagoge Albert Schröttle, Diana Ziegleder vom Deutschen Jugendinstitut in München, Polizeioberrat Thomas Rauscher, Leiter der Dachauer Polizeiinspektion.

(Foto: Toni Heigl)

In den Medien steht das Fehlverhalten von Jugendlichen besonders im Fokus. Das Image in der Öffentlichkeit ist dementsprechend schlecht. Über das Bild von Jugendlichen und die Ursachen von Gewalt und Zerstörungswut diskutierten Experten am Donnerstagabend beim SZ-Forum "Abgreifen und weg - Welche Jugendliche haben wir verdient?". Die Süddeutsche Zeitung veranstaltete die Podiumsdiskussion in Kooperation mit der Heilpädagogischen Tagesstätte Hebertshausen der Caritas, der Heilpädagogischen Tagesstätte im ZJE in Dachau sowie dem Kinderschutz e.V.

Erst kürzlich stürmten 150 jugendliche Randalierer in Dachau die Party einer 16-Jährigen und verwüsteten das Haus ihrer Eltern. Seit Jahren reißt die Serie der Sachbeschädigungen in den Zügen und an den Bahnhöfen entlang der Linie A zwischen Altomünster und Dachau nicht ab. Schwarz-Weiß-Bilder der Überwachungskameras, aufgenommen in Bahnhöfen deutschlandweit, die hemmungslose Schläger zeigen, brennen sich in die Köpfe ein und verselbstständigen sich. Aber sind die jungen Menschen heute wirklich so gewalttätig? Sicherlich nicht, da waren sich Fachleute und Publikum im Ludwig-Thoma-Haus einig. Denn sie sind besser als ihr Ruf.

Es gibt nicht mehr Gewalt als früher und auch an der Qualität hat sich nichts geändert", sagte Diana Ziegleder, wissenschaftliche Referentin in der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendkriminalitätsprävention am Deutschen Jugendinstitut in München. "Aber die Gesellschaft ist deutlich sensibler gegenüber Gewalt geworden." Gemeinsam mit der Soziologin und dem Sozialpädagogen Schröttle, Geschäftsführer des Zweckverbands Kinder- und Jugendarbeit, saß der Leiter der Dachauer Polizeiinspektion Thomas Rauscher auf dem Podium. Dachaus Polizeichef sieht mit Blick auf die Jugendkriminalität keinen Grund zur Besorgnis. Es sei normal, dass die Zahl der Delikte bei Jugendlichen zwischen 14 und 16 Jahren nach oben gehe. In der Regel handle es sich dabei um Bagatellen. "Selbst wenn man in diesem Alter vier oder fünf Mal auffällt, heißt das nicht, dass man später kein völlig normales Leben führen kann." Matthias Neulinger, der auf dem SZ-Podium die Jugend vertrat, ärgert sich über das schlechte Bild seiner Generation: "Oft heißt es, Jugendliche sind Verbrecher und machen nur Unsinn", sagte der 17-Jährige. "Dabei sind das nur Einzelfälle."

Im Mittelpunkt der intensiven zweistündigen Diskussion, die SZ-Redakteur Helmut Zeller moderierte, standen die veränderten Lebensbedingungen, mit denen junge Menschen heute konfrontiert sind. Der Druck auf Schüler, aber auch auf Eltern und Lehrer wächst zunehmend. "Mittlerweile gibt es schon im Kindergarten Bildungspläne", kritisierte Norbert Blesch, geschäftsführender Vorstand des Kinderschutz e.V., der im Publikum saß. "Wir rasen auf einer Bildungsautobahn." Wenn man am System nicht grundsätzlich etwas ändere, sei die Frage, wie lange das noch gut gehe.

Matthias Neulinger besucht die elfte Klasse des Dachauer Josef-Effner-Gymnasiums. Der Petershausener spricht von "großem Leistungsdruck". Das Schulsystem sei sehr unpersönlich und zu wenig auf die individuellen Stärken zugeschnitten. Schröttle ärgert am Bildungssystem, dass Jugendlichen je nach Abschluss ein Stempel aufgedrückt werde. Viele hätten mit 900 Euro netto im Monat in einer Großstadt wie München keine Perspektive. "Wir müssen uns überlegen, für welche Gesellschaft wir eintreten wollen", mahnte der Sozialpädagoge.

Die Gestaltung der Freizeit nach der Schule ist auch nicht immer leicht. Wenn sich Jugendliche am Bahnhof oder in Parks treffen, klagen die Erwachsenen. Doch häufig fehlen Alternativen. "Wir brauchen Orte, an denen wir uns treffen können", sagte Neulinger. Kommunalpolitiker schenkten den Wünschen der Jugend nur wenig Gehör. Jugendarbeiter Olaf Schräder schaltete sich aus dem Publikum ein: "Wir geben den Jugendlichen nicht genug Raum für ihre Freizeitgestaltung." Dabei hält er sie für mündige Bürger, "die Bildung und Freiräume gleichermaßen brauchen".

Und es fehlt an Respekt gegenüber Jugendlichen; darüber waren sich alle Teilnehmer des SZ-Forums einig. Mehr Mitbestimmung und weniger Vorurteile, das wünscht sich Matthias Neulinger von den Erwachsenen. Denn: "Jugendliche sind gar nicht so schlimm, wie sie von den meisten gesehen werden."

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