SZ-Benefizkonzert und -lesung:"Dieser Lebensaugenblick"

Auszüge aus dem Roman "Königsallee", ausgewählt von dessen Autor Hans Pleschinski

Der Hauptgast nahm kaum einen Bissen zu sich. Seine Tochter nagte vom Reh. Der Sohn knüllte die Serviette. Klaus schaute sich bisweilen um, als schwebte er inmitten einer Fata Morgana, deren Flirren ihm Trugbilder vorgaukelte. Über ein Blumengesteck hinweg verständigten sich mehrmals und flüchtig seine Blicke mit denen des Dichters, ohne daß Klares mitgeteilt wurde. Gesprächsfetzen waren vernehmlich, verloschen, Sängerinnenschmuck blitzte, Sommernacht duftete herein, irreal salzig wie die Meeresbrise von 1927 auf Sylt, mit Möwenschrei, Wimpelknattern längs des Strands, Dünungsrauschen, Sand klebte auf der Haut, die Füße hinterließen weiche Spuren, das Kindertoben mit Eimerchen voller Muscheln, im Strandkorb Schlummernde, die Strömung zog unversehens unter Wogenkämmen zu treibendem Tang hinab. Nicht zu weit hinaus, Herr Heuser! Man täuscht sich leicht. Die Dünung entwickelt einen unvorhersehbaren Sog.

Applaus weckte auf. Thomas Mann hatte sich erhoben. Auch als Vertreter von Kultusminister Schütz gebot Staatssekretär Leubelt mit einem Fingerzeig an seiner Tischhälfte Ruhe. Der Dichter entfaltete ein Blatt. Für gänzliche Andacht postierte sich ein Kellner vor der Schwenktür der Küche. "Dieser Lebensaugenblick", Thomas Manns Räuspern zog ein Räuspern anderer nach sich, "hat für mich etwas Herzbewegendes." Die Anwesenden sannen nach. Der Rahmen seiner Goldbrille funkelte. "Diese Gefühlsregung darf nicht gänzlich stumm hinter die objektiv-künstlerische Darbietung dieses Abends zurücktreten, sondern verlangt nach einem Ausdruck, und sei es der schlichteste. Düsseldorf, meine Damen und Herren, ist in meinem Lebenskalender ein Ort, der stets einen besonderen Rang genoß. Von früh an konnte Ihre Metropole des Rheinlands mich an Handel und Wandel denken lassen, an ein Bürgertum, das über lange Zeiten seiner selbst Herr war und überdies seine schaffensfrohe Tüchtigkeit über viele Jahreswochen mit einem Treiben zu verbinden versteht - ich spreche von den Tollheiten des Karnevals", man nickte einander zu, auch der Pastor lachte, "in dem während losgelöster Stunden die Phantasie über das Kalkül obsiegt, ja, ein munteres Heidentum, dem auch Goethe keineswegs abhold war, manch drückende Tristesse beiseitefegt und unsere oft allzu eingeengten Lebensläufe mit schöner Narretei durchwürzt. Aus meiner Heimat", er blickte aufs Blatt, man lauschte der historischen Stimme, "hätte Deutschlands weisester Schalksnarr, Till Eulenspiegel, hinter Düsseldorfs Zinnen vielleicht länger seines Bleibens gehabt, um dann weiterzuziehen und andernorts, als ein zweiter Sokrates, zu lehren, daß strenges Leben seine Ergänzung braucht in gefälligem Übermut, um die Seele mit frischen Kräften zu versorgen. Diese Stadt, verehrte Bürger, bleibe ihrer länderverbindenden Rührigkeit, dem Beharren auf Kunst auch in diesem neuen Gebäude und der Dosis Schaumwein in ihrem Wesen treu. Übles, das Übelste scheint durchstanden, das düstere Neandertal befindet sich nicht nur in der Nähe der geschundenen Gassen. Zwischen und angesichts rasender Horden, die Gnade nicht kannten, nicht Recht, nicht Kultur, haben wir selbst gelebt. Und mein Fluch gilt den Tätern. Geschändet haben sie unser Erbe, und was als ehrbar deutsch galt, in den Schmutz gezogen. Massenkrampf erlebten wir, Budengeläut und derwischmäßiges Wiederholen monotoner Schlagworte, bis die Mäuler schief hingen. Fanatismus wurde Heilsprinzip, Begeisterung epileptische Ekstase, Politik zum Massenopiat. Das wenden Vernunft und Ehrgefühl, die Scham und ein mitfühlendes Menschentum, denn ein Geringeres ist kein Nennenswertes, nun für immer von uns ab."

Betretenheit, Unbehagen waren spürbar. Doch hatten die Veranstalter gemeint, einen netten alten Herren nur für ein Kapitel aus einem heiter-graziösen Roman eingeladen zu haben? Und danach wäre alles in Ordnung?

"Mein im Lande gebliebener, hart bedrängter, doch in seinem Gott unerhört tapferer Kollege Reinhold Schneider gab jüngst zu Protokoll: Aus der Gnade des Unheils erwächst der Auftrag zum Frieden. Gleichwohl, das Unglück und seine Verschränkung mit einer Gnade der Erkenntnis hätte nicht sein müssen. Düsseldorf könnte noch: heil sein. Mit der größten Behutsamkeit lege ich ihnen diesen Begriff heil Buchstabe um Buchstabe zum zukünftigen und schonungsvollsten Umgange miteinander und mit der Welt wieder in den Mund. Möge es nicht auf Widerruf geschehen. Sie werden in mühseligem Proceß Deutschland entgiften, dies ist ihre vornehmste Bürgerpflicht. Auf daß die Kindeskinder mit erträglichen und zivilen Sorgen guter Dinge sind."

Hans Pleschinski: Königsallee, Verlag C.H. Beck, München 2013.

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