Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender:Wenn Kinder verstummen

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Während die Kleinen mit Masken besser klarkommen als die Erwachsenen, leiden sie umso mehr unter Einsamkeit und Vernachlässigung. Kindertageseinrichtungen und Jugendsozialarbeit versuchen zu helfen, unterstützt vom SZ-Adventskalender

Von Jacqueline Lang, Dachau

Welchen Preis Kinder und Jugendlichen zahlen werden, welche "sozialen Kosten" die Coronakrise verursachen wird, all das lässt sich laut Sozialpädagogin Susanne Frölian auch gut ein halbes Jahr nach Beginn der Pandemie noch nicht genau absehen. Fest steht aber schon jetzt: Die Arbeit der Fachdienststelle Kinder, Jugend und Familien der Dachauer Caritas sowie die des AWO-Fachbereichs Kindertageseinrichtungen und Jugendsozialarbeit ist nicht unbedingt leichter geworden. Umso wichtiger ist es, dass die Sozialpädagogen und Jugendsozialarbeiter bei ihrer Arbeit unterstützt werden. Genau das macht der "SZ-Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung" " schon seit vielen Jahren.

Die Copsy-Studie, die im Juli dieses Jahres veröffentlicht wurde, hat die Auswirkungen und Folgen der Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland untersucht. Die Ergebnisse der Studie decken sich mit dem, was Frölian und ihre Mitarbeiter erleben: Laut der Studie fühlen sich 71 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen durch die aktuelle Situation belastet. Zwei Drittel von ihnen geben eine verminderte Lebensqualität und ein geringeres psychisches Wohlbefinden an. Zum Vergleich: Vor der Coronakrise war dies nur bei einem Drittel der Kinder und Jugendlichen der Fall. Das Risiko für psychische Auffälligkeiten ist ebenso gestiegen wie der durch die Schule verursachte Stress. Für Frölian liegen die Ursache dafür auf der Hand: Je begrenzter die Ressourcen Zeit, Geld und Platz sind, desto prekärer ist die Situation - vor allem für Jugendliche, die vermehrt Rückzugsmöglichkeiten, aber auch den Austausch mit Gleichaltrigen brauchen. Allerdings, auch das gibt Frölian zu bedenken, gelte das über alle sozialen Schichten hinweg. "Die Kinder sind einfach in der aktuellen Situation sehr zurückgeworfen auf sich selbst", sagt sie.

Mehr Anmeldungen bei ihrer Stelle konnte die Sozialpädagogin bislang nicht verzeichnen, im ersten Lockdown im Frühjahr sei sogar ein Rückgang festzustellen gewesen; erst mit den Lockerungen seien auch die Klienten wieder gekommen. Doch das muss nicht unbedingt etwas Gutes heißen: Denn wenn das soziale Gefüge wegfällt, fehlt auch der Blick von außen als eine Art Kontrollinstanz. Deshalb ist Frölian eine Befürworterin von Schulen, die offen bleiben. Und es gibt noch einen Grund, warum sie dafür plädiert, Kinder nicht ins Home-Schooling zu schicken: "Ich fürchte, dass die soziale Schere dadurch noch weiter auseinander gehen könnte." Besonders große Sorgen macht sich Frölian um jene Kinder, die in Asylunterkünften wohnen, in denen es vermehrt zu Infektionen kommt, was wiederum zur Folge hat, dass die Bewohner der kompletten Einrichtungen in Quarantäne müssen. Die Kinder hätten dort ohnehin kaum Platz für sich, dadurch werde er noch mehr begrenzt.

Dass verbale oder physische Gewalt gegen Kinder im Landkreis zugenommen hat, konnte bislang nicht festgestellt werden, Studien dazu sind noch in Arbeit. Dass der "Geduldsfaden von Eltern, die versuchen, den Spagat zwischen Kindererziehung und Beruf hinzubekommen, dünner" sei, davon sei aber auszugehen, sagt Frölian. Die vorgezogenen Weihnachtsferien, die nun im Gespräch sind, hält sie deshalb für keine gute Idee. "Die Eltern werden im Regen stehengelassen", sagt sie. Und was für die Eltern gelte, wirke sich direkt auf deren Kinder aus. Eine verlorene Jugend will Frölian deshalb nicht heraufbeschwören, weil gerade jüngere Kinder "sehr anpassungsfähig" seien, wie sich gezeigt habe. Doch die Ängste, die gerade die Älteren jetzt entwickelten, könnten schon Auswirkungen auf ihr weiteres Leben haben. Frölian sagte, sie könne nur hoffen, dass sie das "Vertrauen ins Leben" und die "Leichtigkeit" nicht verlieren.

Elke Misun, Fachbereichsleiterin für die Kindertageseinrichtungen und Jugendsozialarbeit bei der AWO, zeichnet ein ähnliches Bild wie Frölian von der Caritas. Einige der Jugendsozialarbeiter, die an den Landkreisschulen im Einsatz sind, würden sich Sorgen über mögliche "psychosomatische Spätfolgen" machen. Gleichzeitig gebe es aber auch die Hoffnung, dass eine Generation heranwachse, "die besser mit sich selbst klar kommt". Auch das berge zwar das Risiko der Vereinsamung, aber im besten Fall sei es eben auch eine Chance für Selbstständigkeit. Und dadurch, dass die Kinder damit aufwachsen, dass sich alles innerhalb von Stunden, Tagen und Wochen verändern kann, seien die Kinder möglicherweise auch spontaner als vorherige Generationen, die alles lange im voraus planten, so Misun.

Ähnlich wie die Caritas im ersten Lockdown die "Beratung to go" angeboten hat, hat die AWO das Format "Walk and talk" eingeführt, sprich Beratung im Freien während eines gemeinsamen Spaziergangs. Denn darin sind sich alle einig: Ein persönliches Gespräch können Telefonate oder Videochats langfristig nicht ersetzen. Und wichtig ist die Arbeit der Sozialpädagogen und Jugendsozialarbeiter auch und vor allem dann, wenn Kinder wie im ersten Lockdown gar nicht in die Schule gehen können. "Da gibt es viele Kinder, die abgehängt werden", sagt Misun. Nicht nur, weil die Technik fehle, sondern auch weil es viele Familien gebe, in denen zuhause kein Deutsch gesprochen werde. "Da fangen wir teilweise wieder von vorne an."

Neben dem Risiko, im Schulunterricht nicht mehr mitzukommen, gibt es aus Sicht der Fachgebietsleiterin aber noch etwas, das man im Blick haben muss: Viele Kinder, die sie betreuen, kommen aus Familien in denen mindestens ein Elternteil in einem sogenannten systemrelevanten Beruf arbeitet und damit gerade in der jetzigen Krise beruflich stark gefordert ist. Die Folge sei, dass Kinder sich und ihre kleineren Geschwister häufig selbst beaufsichtigten. In solchen Fällen sei es wichtig, wieder daran zu erinnern, welche Rolle Kinder und Eltern in der Familie jeweils einnehmen, damit Kinder auch wirklich Kinder sein können. Beeindruckt hat Misun, wie wenig gerade die Kindergartenkinder die Maskenpflicht verunsichere. Teilweise hätten die Kinder sogar ihrem sechsten Geburtstag entgegen gefiebert, weil sie dann auch endlich eine Maske tragen dürfen. Doch wie eigentlich in allen Bereichen offenbarten sich auch hier die ohnehin schon bekannten Probleme, wenn etwa das Kind eine viel zu große Erwachsenenmaske trage, weil kein Geld für eine eigene Maske da sei oder ein und dieselbe Maske ganz schmutzig sei, weil sie nie oder nur selten gewaschen werde.

Besonders Kinder an weiterführenden Schulen hätten teilweise enormen Redebedarf - auch die, die vielleicht in normalen Zeiten nicht das Gespräch mit den Sozialarbeitern suchen würden. Vor allem im Frühjahr, als die Bilder aus Italien mit den vielen Leichen um die Welt gegangen seien sei viel über die Angst um die eigenen Großeltern gesprochen worden. Aber es gibt auch jene, die ganz verstummen: Misun erinnert sich an einen Jungen, der, als er nach dem Lockdown zurück in die Schule kam, nicht mehr geredet hat. Bei ihr und ihren Kollegen seien da natürlich die "Alarmglocken" angegangen. Schlussendlich habe sich herausgestellt, dass der Junge in der ganzen Zeit zuhause auch kaum geredet habe, schlicht weil nur selten jemand da gewesen sei, mit dem er sich hätte unterhalten können. Gewalt habe er also nicht erfahren, sehr wohl aber eine Vernachlässigung. "Der hat sich in seinem Schweigen so eingerichtet", sagt Misun. Knapp zwei Monate habe es gedauert, bis er wieder zum Sprechen animiert werden konnte. Die Geschichte dieses Jungen, sie ist nur eine von vielen, die die Coronakrise zur Folge hat.

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Quelle:
SZ vom 28.11.2020
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