SZ-Adventskalender:"Inklusion muss da stattfinden, wo man wohnt"

Lesezeit: 5 Min.

Der Verein Kunterbunte Inklusion veranstaltet Führungen durch Dachau für Kinder mit und ohne Behinderung. Diese könnten zu einem Vorbild werden für andere Städte und Gemeinden. Der SZ-Adventskalender für gute Werke hilft

Von Jacqueline Lang, Dachau

Wie schmecken Farben, wie fühlen sie sich an? Erklärt man vielleicht am besten, dass es ganz unterschiedliche Rottöne gibt, indem man erklärt, dass rote Johannisbeeren sauer, rote Erdbeeren aber süß sind? Und kann man anhand eines abstrakten Bildes wie "Komposition I" von Adolf Hölzel womöglich zeigen, dass jedes Kind malen kann, auch wenn es ihm nicht gelingt, realitätsgetreue Menschen und Landschaften zu zeichnen? Diese und viele andere Fragen stellen sich Marianne Nickl und Franziska Knödler vom Verein Kunterbunte Inklusion sowie die Gästeführerinnen Kerstin Cser und Ilona Huber an einem Sonntagnachmittag bei einem Besuch der Dachauer Gemäldegalerie. Sie planen gerade die zweite inklusive Stadtführung in Dachau, für Kinder mit und ohne eine Behinderung. Die Unterstützung des Adventskalenders für gute Werke der Süddeutschen Zeitung macht möglich, dass die vier Frauen nicht nur allerlei Ideen erspinnen, sondern diese auch umsetzen können. Und Ideen haben sie viele.

Die erste inklusive Stadtführung überhaupt fand im Sommer dieses Jahres statt. Damals, als viele noch dachten, das Schlimmste der Pandemie sei längst überstanden. Vor allem Nickl und Knödler als Mütter von Kindern mit einer Behinderung sind es allerdings gewohnt, Dinge ein wenig anders zu machen als die Mehrheitsgesellschaft. Schon lange bevor Begriffe wie 2G und 3G in aller Munde waren, galt deshalb für die Stadtführung: Teilnehmen darf nur, wer geimpft, genesen oder getestet ist.

Ohnehin sind viele Kinder, vor allem jene mit einer Schwerbehinderung, zu diesem Zeitpunkt längst geimpft. Man spricht von einer Off-Label-Impfung, weil sie auf eigenes Risiko erfolgt. Für die Kinder und ihre Familien war und ist es oftmals der einzige Weg, mitten in einer Pandemie überhaupt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Trotzdem wissen sie, Stand Anfang Dezember, nicht, wann die nächste Führung stattfinden wird. Anders als im Sommer, als durch die Stadt zu spazieren im Freien möglich war, ist es jetzt längst zu kalt dafür. Deshalb laufen die Pläne für eine Führung durch die Gemäldegalerie auf den Spuren der Dachauer Künstlerkolonie, im Anschluss sollen die Kinder im Werkraum des Bezirksmuseums selbst die Gelegenheit bekommen, ihr künstlerisches Talent zu erproben. Theoretisch ist das derzeit noch erlaubt, praktisch mahnen Virologen längst, Kontakte zu beschränken. Über das Risiko für ältere Menschen wird in diesem Zusammenhang gesprochen. Wie hoch es für Kinder wie die 14-jährige Hannah ist, darüber redet indes kaum jemand.

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Hannah war im Sommer dabei, als der Imker im Schlossgarten erklärt hat, wie das mit den Blumen, Bienen und dem Honig funktioniert und ihnen die dritte Bürgermeisterin Luise Krispenz (Grüne) vor dem Rathaus erklärt hat, welche Tiere auf dem Stadtwappen zu sehen sind.

Diesen Tag wird Hannah noch lange in Erinnerung behalten. Sagen kann das schwer mehrfachbehinderte Mädchen das nicht, zumindest nicht für alle verständlich. Doch Nickl kennt sie gut genug, um ihre Mimik deuten zu können. Umso schöner ist es, dass sie überhaupt dabei sein konnte: Hannah sitzt in einem Buggy, den ihre Eltern eigens für sie angefertigt haben. Sie damit den Berg zum Schloss hochzuschieben, war einiger Kraftaufwand nötig. Doch Inklusion ist eben manchmal auch ganz wörtlich das: ein Kraftakt. Einer, der sich - geht es nach Nickl, Knödler, Huber und Cser - allemal lohnt.

Deshalb lassen sie sich auch von der Pandemie nur insofern ausbremsen, als dass sie noch keinen Termin für die zweite Führung festgelegt haben. Dass es ein nächstes Mal geben wird, daran besteht indes kein Zweifel - und glaubt man den Kindern, die im Sommer dabei waren, dann können sie es schon jetzt kaum erwarten.

(Foto: SZ)

Sogar Nickls zwölfjähriger Sohn Moritz sagt in einem Video, das Nickl aufgenommen hat, wie gut es ihm gefallen habe. Wer den Jungen nicht kennt, auf den wirkt er im ersten Moment unbeteiligt. Doch Moritz hat das Fragile-X-Syndrom, das zu kognitiven Beeinträchtigungen führt. Dass er sich also überhaupt an die Führung erinnert und beim nächsten Mal noch einmal dabei sein möchte, ist deshalb eine Besonderheit.

Für Nickl, Knödler, Huber und Cser ist das Motivation genug: Beim Gang durch die Gemäldegalerie überlegen sie deshalb schon fleißig, wie sie Führung Nummer zwei, wenn es einmal so weit ist, so gestalten können, dass alle alles verstehen - ohne dass sich Grüppchen bilden. Das ist ihnen besonders wichtig. Immerhin wollen sie eine Führung anbieten, die weder die einen über- noch die anderen unterfordert. Immer alle mitzudenken ist nicht ganz einfach, aber für die vier Frauen ist das keine Bürde, sondern eine Herausforderung, die sie gerne annehmen. Und so machen sie sich darüber Gedanken, wie man etwa einem Kind mit einer Sehbehinderung am besten die Farbe weiß näher bringen kann. Ist weiß kalt wie Schnee, feinkörnig wie Salz oder süß wie Zitroneneis?

Beobachtet man die Frauen länger bei der Erarbeitung der Führung wird eines schnell klar: Spaß dürfte all das nicht nur Kindern machen, die, wie Nickl das formuliert, "tiefbegabt" sind, die Sinnes-, Verhaltens- und Körperbeeinträchtigungen oder Lernbehinderungen haben, sondern auch jenen, die "durchschnitts- oder hochbegabt" sind. Die Kategorie "geistige Behinderung" ist für Nickl eine, die sie nur nutzt, wenn sie mal wieder mit den Ämtern um Sozialleistungen streiten muss. Ohnehin sind die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, ob mit oder ohne Behinderung, für sie vor allem eines: Kinder.

Ebenfalls bei der ersten Stadtführung dabei gewesen sind die beiden besten Freudinnen Luisa und Juliane (vorne, von links). (Foto: N.P.JØRGENSEN)

Der beste Beweis dafür sind vielleicht ihre Tochter Luisa und deren beste Freundin Juliane. Juliane ist neun Jahre alt und war ebenfalls bei der ersten Stadtführung im Sommer dabei. Nickl hat sie gefragt, was ihr besonders gut gefallen hat. Auch ihre Antworten hat sie gefilmt. "Wir haben Süßes bekommen", lautet die Antwort des Mädchens, das in die Kamera grinst. Es ist eine Antwort, die man so wohl von jedem Kind in ihrem Alter bekommen hätte - ganz egal, ob sie wie Juliane das Downsyndrom hat oder wie Luisa keine Behinderung hat. Immerhin erzählt auch die siebenjährige Luisa in einem Video von Lebkuchenherzen und Brezen.

Noch fallen den vier Frauen immer neue Dinge auf, die man anders und besser machen könnte. Kein Wunder, immerhin steht das Projekt ja noch ganz am Anfang. Große Träume gibt es trotzdem schon: So wollen Nickl, Knödler, Cser und Huber ihre Konzepte nicht nur für Dachau erarbeiten, sondern sie entwickeln sie "in der Hoffnung, andere interessierte Städte und Gemeinden bei der Entwicklung eigener Inklusionskonzepte unterstützen zu können".

Dank der finanziellen Unterstützung des SZ-Adventskalenders können sie nun auf jeden Fall in Dachau schon voll durchstarten: Mit den Spenden können sie nicht nur die Gästeführerinnen für ihre Arbeit entlohnen, auch Eintrittskarten für Museen und andere Einrichtungen für alle Teilnehmenden sowie Bastelmaterial können damit bezahlt werden.

Bleibt die Frage: Wer ist eigentlich auf diese simple wie geniale Idee gekommen? Ausnahmsweise waren es nicht Nickl und Knödler vom Verein Kunterbunte Inklusion. Vielmehr haben sich die Gästeführerinnen Cser und Huber irgendwann gedacht, dass es so etwas doch geben müsste: eine Kinderführung für alle Kinder. Und das eben auch in Dachau. "Inklusion muss da stattfinden, wo man wohnt", sagt Cser. Natürlich, das sagt auch Nickl, sei das Ziel der "kunterbunten Führungen" irgendwann einmal, "dass sie ganz normal angeboten werden, im Grunde als erweiterte Kinderführungen". Denn theoretisch könnten natürlich auch Kinder mit einer Behinderung etwa am Freitag vor Weihnachten zu der Kinderführung kommen, bei der Weihnachtsgeschichten vorgelesen und Punsch getrunken wird.

Damit Eltern, die ein Kind mit einer Behinderung haben, sich von solch einem Angebot aber angesprochen fühlen, bedarf es zunächst Angeboten wie der inklusiven Stadtführung. Immer noch viel zu oft machen Menschen mit einer Behinderung die Erfahrung, dass sie zwar angeblich mitgemeint, praktisch aber nicht mitgedacht werden. In Dachau will man es besser machen: Wer teilnehmen möchte, kriegt vorab einen Fragebogen, in dem nicht nur etwaige Behinderungen eingetragen werden können, sondern auch Dinge wie Allergien. So können sich die Gästeführerinnen bestmöglich auf ihr junges und diverses Publikum vorbereiten. Das Ergebnis sind Kinder, die sich gesehen fühlen.

© SZ vom 04.12.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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