Süddeutsche Zeitung

Sonderausstellung:Von Fleiß und Stolz und herrlichem Schnurren

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Ob Müller, Wagner oder Maurer - in der Sonderausstellung "Arbeitswelten" können Besucherinnen und Besucher in die Geschichten historischer Berufe und der Menschen dahinter abtauchen. Dabei helfen Exponate wie Werkzeug und Kammerwagen

Von Gregor Schiegl, Dachau

Morgens um fünf beginnt die Arbeit im Stall. Ohne Frühstück. Das gibt es erst um sieben. Brotsuppe mit Kartoffeln oder Kaffee mit Brot. "Viele Jahre saßen wir bis zu neunt am Tisch", erzählt Anton Roth über das Leben in seinem Elternhaus in Ampermoching. "Wir Kinder schliefen im Obergeschoss. Die Zimmer waren nicht beheizt, so dass die Fenster im Winter häufig mit Eisblumen bedeckt waren." Der Vater, Jakob Roth, ist Landwirt. Fachkundig repariert er die Räder der Fuhrwerke anderer Bauern, im Winter drechselt er Radnaben auf Vorrat. Das Lager füllt sich mit den Jahren, die Abnehmer bleiben aus. Wer braucht im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert auch noch einen richtigen Wagner? In den Siebzigern hängt Jakob Roth seinen alten Handwerksberuf endgültig an den Nagel. 1986 stirbt er. Damit endet nach mehr als 300 Jahren die Geschichte der Wagnerei in Schwabhausen.

Vergessen ist sie nicht. Man kann sie nachlesen in der recht umfangreichen Begleitbroschüre zur neuen Ausstellung "Arbeitswelten - Geschichte(n) über Handwerk und Gewerbe". Für knapp ein Jahr ist diese Sonderausstellung nun als Ergänzung zur Dauerausstellung im Bezirksmuseum Dachau zu sehen. Erarbeitet hat sie die Geschichtswerkstatt. Die ehrenamtlich tätigen Hobbyhistoriker nehmen darin den Wandel der Berufswelt in den Blick, exemplarisch erzählt an elf Handwerks- und Handelsberufen: Maurer, Wagner, Weber, Schmied, Schuhmacher, Müller, Schneider, Apotheker, Fotograf, Bäcker und Krämer.

Das Thema klingt zunächst simpel, ist aber durchaus komplex. Wirtschafts-, Technik- und Sozialgeschichte verflechten sich hier mit der Alltagsgeschichte der Menschen im Landkreis. Sie sind es auch, die im Fokus dieses Ausstellungsprojekts stehen. "Unsere Forschung lebt von Geschichten", sagt Annegret Braun über die Arbeit der Geschichtswerkstatt. In diesen Alltagserzählungen fächern sich die Facetten der Vergangenheit auf. Es sind Erzählungen von handwerklichem Stolz, von Fleiß und Zielstrebigkeit, von tragischen Arbeitsunfällen, aber auch herrlichem Schnurren: Der Schmied Josef Mayr war 1924 der erste Gündinger mit eigenem Automobil. Er hatte es sich selbst gebaut. Kaum zu glauben: Der TÜV soll das Gefährt Marke Eigenbau "anstandslos" abgenommen haben. 1991 feierte der rastlose Mann seinen 100. Geburtstag. Überliefert ist sein Ausspruch: "Ohne Arbeit is scho greißlig."

Aber diese Ausstellung hat noch viel mehr zu erzählen. Von Krisen und Strukturwandel. Von der Erfolgsgeschichte des Schuhmachers Hans Wagner, der die Vierkirchner Schuhfabrik Hanwag gründete. Hier entstand unter anderem die Marke Lowa, die heute noch oft verkauft und von Bergsteigern sehr geschätzt wird. Oder die bedrückende Geschichte der Familie Wallach: Melitta und Max Wallach hatten sich in Dachau hochgearbeitet und stellten in ihrer Fabrik hochwertige Trachtentextilien her. So hätte es auch weitergehen können - wären sie nicht Juden gewesen. Im November 1938 wurden sie aus Dachau vertrieben und 1944 im KZ Auschwitz ermordet. Man sieht: Es greifen viele Zahnräder des geschichtlichen Prozesses ineinander, das Thema ist sehr weitläufig. Das gilt auch für die Sonderausstellung: Sie ist verteilt über sämtliche Etagen des Bezirksmuseums. Das liegt daran, dass es zwar einige Exponate gibt, vor allem aber Produkte und Produktionsmittel der einzelnen Berufsstände - dazu gehört etwa das komplette Werkzeug eines Maurergesellen inklusive Spachtel und Kelle, das dieser bis in die Sechzigerjahre selbst auf die Baustelle mitzubringen hatte - es sind aber auch altbekannte Exponate der Dauerausstellung neu in den Kontext der Sonderausstellung integriert. Dazu gehört beispielsweise der imposante Kammerwagen im ersten Stock, an dem man sowohl Wagner- wie Schneiderkünste bewundern kann.

Im Treppenaufgang zum ersten Stock trifft man auf die alten Ölporträts von Herrn und Frau Müller, die auch tatsächlich das Müllerhandwerk ausübten. Die Wandfläche rund um die Bilder ist fliederfarben hinterlegt, gewissermaßen als optisches Signal für den Besucher, dass diese Stücke der Dauerausstellung nun auch zur Sonderausstellung gehören. In einem wasserreichen Landkreis wie Dachau ist das Müllerhandwerk natürlich von besonderem Interesse. Im Jahr 1760 gab es sage und schreibe 66 Mühlen im Landkreis. Heute ist nur noch eine einzige in Betrieb. Weil Mehl immer gebraucht wurde - die Leute wären ja sonst womöglich verhungert - mussten Müller nicht in den Krieg ziehen. Die Kehrseite: Sie konnten nicht auf dem Schlachtfeld fürs Vaterland sterben. Das ist der Grund, warum ihr Berufsstand als "ehrlos" galt, wie Gustav Seibt in seinem Beitrag zur Ausstellungsbroschüre schreibt.

Gemessen an dem, was die Geschichtswerkstatt alles zusammengetragen hat, wirken die Texte und Bilder auf den Info-Tafeln im Museum allenfalls wie Appetithäppchen. Man will ja in einer Ausstellung vor allem schauen und nicht nur lesen. Wen danach der große Wissenshunger packt, sollte sich die bebilderte, mit 64 Seiten äußerst umfassende Begleitbroschüre leisten. Dass die Ausstellung in ihrer Knappheit dennoch recht lehrreich ist, liegt einerseits an originellen Ausstellungsstücken. Da wären etwa die Visitenkarten mit Fotoporträts, die eine Zeitlang en vogue waren und die man in ein Album sortieren konnte - wie bei Facebook, nur analog in Schwarzweiß und mit Zwirbelbart. Und dann andererseits, ganz zwirbelbartlos: Die Ausstellungsmacher heben einen interessanten Aspekt in ihrer Schau hervor: die weibliche Seite des Handwerks.

"Das Handwerk war immer männerdominiert", sagt Annegret Braun. "Aber wir haben auch in allen Berufen Frauen gefunden." Maria Wenninger machte 1977 ihre Meisterprüfung im Müllerhandwerk, um die elterliche Hubermülle in Erdweg zu übernehmen. Sie war damals die einzige Frau unter lauter jungen Müllersanwärtern. Sie wusste sich zu behaupten - und wurde sogar Jahrgangsbeste, Kultusminister Hans Mair belobigte sie. Es gibt auch schon frühere Beispiele der Emanzipation. Ende des 18. Jahrhunderts wagten es zwei Wagnerwitwen, die Betriebe ihrer Männer in Eigenregie fortzuführen. Die "Weiberwirtschaft" rief den Dachauer Magistrat auf den Plan, er verlangte die Einstellung männlicher Gesellen, damit diese den Betrieb weiterführen. Die Frauen ließen sich den Schneid nicht abkaufen und machten einfach weiter. Auf diesen Aspekt der Ausstellung ist Annegret Braun besonders stolz: Die Geschichtswerkstatt greife damit "in eine Forschungslücke".

Arbeitswelten. Ausstellung der Geschichtswerkstatt im Bezirksmuseum Dachau. Öffnungszeiten Dienstag bis Freitag von 11 bis 17 Uhr, Samstag, Sonntag und Feiertag von 13 bis 17 Uhr. Zu sehen bis 28. September 2022.

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Quelle:
SZ vom 11.11.2021
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