Sensibilisierung für Blinde:Andere Sinne schärfen

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Dass es ohne Augenlicht schwierig ist, zu essen, Milch in den Kaffee zu gießen oder sich durch einen Raum zu tasten, erfahren Teilnehmer der "Tage des Sehens". Organisatorin Christine Unzeitig ist begeistert von dem Projekt

Von Julia Haas, Dachau

Franziska Weigand steht am Dachauer Bahnhof am Gleis und fragt eine Frau neben sich, wann der nächste Zug kommt. "Steht doch da, können sie nicht lesen", patzt die zurück. "Lesen kann ich schon, aber nicht besonders gut sehen", sagt Weigand. "Ich bin blind." Diese Geschichte erzählt sie am Mittwoch im Begegnungs- und Informationszentrum in der Dachauer Altstadt. Dort fanden zwei "Tage des Sehens" statt. Denn: was das heißt, sehbehindert oder blind zu sein, wissen die wenigsten. Mit dem Projekt wollte das Begegnungszentrum gemeinsam mit dem Verein Blickpunkt Auge die Öffentlichkeit sensibilisieren. Denn ein ähnliches Erlebnis wie Franziska Weigand hatten die meisten Betroffenen schon. "Den Leuten fehlt leider oft das Verständnis", sagt die Niederrotherin.

Das sollte sich mit den Aktionstagen ändern: Zum Beispiel in einem Dunkel-Café. Besucher ohne Sehbehinderung konnten so hautnah erleben, wie es sich anfühlt, nichts mehr zu sehen. Sie bekamen eine Dunkelbrille, wurden in einen Raum geführt und durften dann Zucker dosieren, Milch in den Kaffee schütten, Kuchen essen. Auch der stellvertretende Landrat Helmut Zech (CSU) wagte den Versuch. "Er hat sich sehr gut geschlagen", sagt Hildegard Baumgartner von Blickpunkt Auge, selbst stark sehbehindert. "Aber es ist natürlich total schwierig. Wie viel Milch hat man reingeschüttet? Das schmeckt man dann später." Manchmal komme eben ein Milchkaffee raus.

Gästeführerin voraus: Anni Härtl leitet die Gruppe sehbehinderter Menschen sicher durch den Hofgarten. (Foto: Niels P. Joergensen)

Im Fühlraum nebenan, ebenfalls abgedunkelt, standen Kisten mit verschiedenen Dingen darin. Die Teilnehmer mussten sich blind durch den Raum tasten und erraten, was in den Kisten ist. "Ich habe mir das ganz anders vorgestellt, ich dachte, ich wurde um eine Ecke geführt, dabei stimmte das gar nicht", sagt ein Mann später. Die Teilnehmer dieses Versuchs berichten alle, dass sie komplett umschalten mussten, sagt Christine Unzeitig, die Vorsitzende des Begegnungszentrums. "Man konzentriert sich auf andere Sinne, hört auf Kleinigkeiten, fokussiert sich auf das Gegenüber."

Am erste Projekttag standen außerdem einige Vorträge von Fachreferenten des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands auf dem Programm. Zum Beispiel berichtete eine Reha-Fachkraft über den Alltag einer blinden Frau im Altenheim. "Wenn die morgens aufwacht, weiß sie erst mal nicht, wie viel Uhr es ist."

Ein weiterer Schwerpunkt war die Barrierefreiheit im öffentlichen Raum. Am Bahnhof oder an Bushaltestellen gibt es Rillen im Boden zur Orientierung. Schwieriger wird es mit Pollern. Ein Mensch mit Sehbehinderung hat keinerlei Warnung, dass er gleich über einen hüfthohen Pfeiler stolpern könnte. Ein Problem ist außerdem das Kopfsteinpflaster in der Altstadt, da der Blindenstock leicht darin hängen bleibt. Wichtig war für viele Teilnehmer ein Vortrag über Hilfsmittel. "Man muss gut eingelernt werden, ich wusste gar nicht, wie ich eine Lupe richtig verwende", gesteht eine Zuhörerin später.

Während der Führung durch den Dachauer Hofgarten gab es sehr zur Freude der Teilnehmer eine Apfel-Verkostung. (Foto: Niels P. Jørgensen)

Für die Sehbehinderten gab es am zweiten Tag ein besonderes Highlight, eine Führung mit Gästeführerin Anni Härtl durch den Hofgarten. Die Dachau-Expertin hat schon Erfahrung mit Blindenführungen. Am Anfang habe sie sich aber erst mal einarbeiten müssen. "Ich bin zum Beispiel mit Augenklappe durch die Gemäldegalerie gelaufen und habe mir Kunstwerke erklären lassen." Der Hofgarten macht es ihr da schon etwas leichter, hier können die Zuhörer Blätter, Bäume und Blumen gezielt anfassen oder schmecken. Teil der Führung war auch eine Verkostung der Äpfel aus dem Garten. Gefallen hat es allen. "Toll erklärt", meint eine Frau mit starker Sehbehinderung später in gemütlicher Runde bei Kaffee und Kuchen, "nur kalt war's". Ihren Erzählstil musste Anni Härtl kaum anpassen. Am Blindenstammtisch habe ihr mal jemand gesagt: "Sie erzählen so blütenreich." Von den Führungen mit Sehbehinderten hat die Gästeführerin selbst einiges gelernt: "Man geht sensibler mit Dingen um, wir grapschen alles immer so unbehutsam an."

Organisatorin Christine Unzeitig freut sich über das gelungene Projekt. Ein neues ist bereits in Planung: Tage des Hörens. Vor allem die Unterstützung beispielsweise durch das Landratsamt, die Bürgerstiftung Stadt Dachau oder auch Oberbürgermeister Florian Hartmann (SPD) wertet Unzeitig als Schritt in die richtige Richtung. "Die Projekte müssen weiter leben. Das Begegnungszentrum muss weiter eine Anlaufstelle sein."

© SZ vom 28.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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